Seltsame Grille des Volkes! Es verlangt seine Geschichte aus der Hand des Dichters und nicht aus der Hand des Historikers. Es ver¬ langt nicht den treuen Bericht nackter That¬ sachen, sondern jene Thatsachen wieder aufgelöst in die ursprüngliche Poesie, woraus sie hervor¬ gegangen. Das wissen die Dichter, und nicht ohne geheime Schadenlust modeln sie willkührlich die Völkererinnerungen, vielleicht zur Verhöh¬ nung stolztrockner Historiographen und perga¬ mentener Staatsarchivare. Nicht wenig ergözte es mich, als ich in den Buden des letzten Jahr¬ markts die Geschichte des Belisars in grell kolo¬ rirten Bildern ausgehängt sah, und zwar nicht nach dem Procop, sondern ganz treu nach Schenk's Tragödie. "So wird die Ge¬ schichte verfälscht" -- rief der gelahrte Freund, der mich begleitete, -- "sie weiß nichts von jener Rache einer beleidigten Gattin, von jenem ge¬ fangenen Sohn, von jener liebenden Tochter,
Seltſame Grille des Volkes! Es verlangt ſeine Geſchichte aus der Hand des Dichters und nicht aus der Hand des Hiſtorikers. Es ver¬ langt nicht den treuen Bericht nackter That¬ ſachen, ſondern jene Thatſachen wieder aufgeloͤſt in die urſpruͤngliche Poeſie, woraus ſie hervor¬ gegangen. Das wiſſen die Dichter, und nicht ohne geheime Schadenluſt modeln ſie willkuͤhrlich die Voͤlkererinnerungen, vielleicht zur Verhoͤh¬ nung ſtolztrockner Hiſtoriographen und perga¬ mentener Staatsarchivare. Nicht wenig ergoͤzte es mich, als ich in den Buden des letzten Jahr¬ markts die Geſchichte des Beliſars in grell kolo¬ rirten Bildern ausgehaͤngt ſah, und zwar nicht nach dem Procop, ſondern ganz treu nach Schenk's Tragoͤdie. „So wird die Ge¬ ſchichte verfaͤlſcht„ — rief der gelahrte Freund, der mich begleitete, — „ſie weiß nichts von jener Rache einer beleidigten Gattin, von jenem ge¬ fangenen Sohn, von jener liebenden Tochter,
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Seltſame Grille des Volkes! Es verlangt
ſeine Geſchichte aus der Hand des Dichters und
nicht aus der Hand des Hiſtorikers. Es ver¬
langt nicht den treuen Bericht nackter That¬
ſachen, ſondern jene Thatſachen wieder aufgeloͤſt
in die urſpruͤngliche Poeſie, woraus ſie hervor¬
gegangen. Das wiſſen die Dichter, und nicht
ohne geheime Schadenluſt modeln ſie willkuͤhrlich
die Voͤlkererinnerungen, vielleicht zur Verhoͤh¬
nung ſtolztrockner Hiſtoriographen und perga¬
mentener Staatsarchivare. Nicht wenig ergoͤzte
es mich, als ich in den Buden des letzten Jahr¬
markts die Geſchichte des Beliſars in grell kolo¬
rirten Bildern ausgehaͤngt ſah, und zwar
nicht nach dem Procop, ſondern ganz treu
nach Schenk's Tragoͤdie. „So wird die Ge¬
ſchichte verfaͤlſcht„ — rief der gelahrte Freund,
der mich begleitete, — „ſie weiß nichts von jener
Rache einer beleidigten Gattin, von jenem ge¬
fangenen Sohn, von jener liebenden Tochter,
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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 3. Hamburg, 1830, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder03_1830/56>, abgerufen am 21.11.2024.
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