Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 3. Hamburg, 1830.

Bild:
<< vorherige Seite

jene naive Frage selbst betrifft, so kommt sie mir
nie aus dem Gedächtnisse. Ueberall, wo ich un¬
wahre Naturempfindung und dergleichen grüne
Lügen ertappe, lacht sie mir ergötzlich durch den
Sinn. Auch bey der Deklamazion des Markese
wurde sie in mir laut, und den Spott auf meinen
Lippen errathend, rief er verdrießlich: Stören
Sie mich nicht -- Sie haben keinen Sinn für
reine Natürlichkeit -- Sie sind ein zerrissener
Mensch, ein zerrissenes Gemüth, so zu sagen,
ein Byron.

Lieber Leser, gehörst Du vielleicht zu jenen
frommen Vögeln, die da einstimmen in das Lied
von byronischer Zerrissenheit, das mir schon seit
zehn Jahren, in allen Weisen, vorgepfiffen und
vorgezwitschert worden, und sogar im Schädel
des Markese, wie Du oben gehört hast, sein
Echo gefunden? Ach, theurer Leser, wenn Du
über jene Zerrissenheit klagen willst, so beklage
lieber, daß die Welt selbst mitten entzwey ge¬

jene naive Frage ſelbſt betrifft, ſo kommt ſie mir
nie aus dem Gedaͤchtniſſe. Ueberall, wo ich un¬
wahre Naturempfindung und dergleichen gruͤne
Luͤgen ertappe, lacht ſie mir ergoͤtzlich durch den
Sinn. Auch bey der Deklamazion des Markeſe
wurde ſie in mir laut, und den Spott auf meinen
Lippen errathend, rief er verdrießlich: Stoͤren
Sie mich nicht — Sie haben keinen Sinn fuͤr
reine Natuͤrlichkeit — Sie ſind ein zerriſſener
Menſch, ein zerriſſenes Gemuͤth, ſo zu ſagen,
ein Byron.

Lieber Leſer, gehoͤrſt Du vielleicht zu jenen
frommen Voͤgeln, die da einſtimmen in das Lied
von byroniſcher Zerriſſenheit, das mir ſchon ſeit
zehn Jahren, in allen Weiſen, vorgepfiffen und
vorgezwitſchert worden, und ſogar im Schaͤdel
des Markeſe, wie Du oben gehoͤrt haſt, ſein
Echo gefunden? Ach, theurer Leſer, wenn Du
uͤber jene Zerriſſenheit klagen willſt, ſo beklage
lieber, daß die Welt ſelbſt mitten entzwey ge¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0257" n="249"/>
jene naive Frage &#x017F;elb&#x017F;t betrifft, &#x017F;o kommt &#x017F;ie mir<lb/>
nie aus dem Geda&#x0364;chtni&#x017F;&#x017F;e. Ueberall, wo ich un¬<lb/>
wahre Naturempfindung und dergleichen gru&#x0364;ne<lb/>
Lu&#x0364;gen ertappe, lacht &#x017F;ie mir ergo&#x0364;tzlich durch den<lb/>
Sinn. Auch bey der Deklamazion des Marke&#x017F;e<lb/>
wurde &#x017F;ie in mir laut, und den Spott auf meinen<lb/>
Lippen errathend, rief er verdrießlich: Sto&#x0364;ren<lb/>
Sie mich nicht &#x2014; Sie haben keinen Sinn fu&#x0364;r<lb/>
reine Natu&#x0364;rlichkeit &#x2014; Sie &#x017F;ind ein zerri&#x017F;&#x017F;ener<lb/>
Men&#x017F;ch, ein zerri&#x017F;&#x017F;enes Gemu&#x0364;th, &#x017F;o zu &#x017F;agen,<lb/>
ein Byron.</p><lb/>
          <p>Lieber Le&#x017F;er, geho&#x0364;r&#x017F;t Du vielleicht zu jenen<lb/>
frommen Vo&#x0364;geln, die da ein&#x017F;timmen in das Lied<lb/>
von byroni&#x017F;cher Zerri&#x017F;&#x017F;enheit, das mir &#x017F;chon &#x017F;eit<lb/>
zehn Jahren, in allen Wei&#x017F;en, vorgepfiffen und<lb/>
vorgezwit&#x017F;chert worden, und &#x017F;ogar im Scha&#x0364;del<lb/>
des Marke&#x017F;e, wie Du oben geho&#x0364;rt ha&#x017F;t, &#x017F;ein<lb/>
Echo gefunden? Ach, theurer Le&#x017F;er, wenn Du<lb/>
u&#x0364;ber jene Zerri&#x017F;&#x017F;enheit klagen will&#x017F;t, &#x017F;o beklage<lb/>
lieber, daß die Welt &#x017F;elb&#x017F;t mitten entzwey ge¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[249/0257] jene naive Frage ſelbſt betrifft, ſo kommt ſie mir nie aus dem Gedaͤchtniſſe. Ueberall, wo ich un¬ wahre Naturempfindung und dergleichen gruͤne Luͤgen ertappe, lacht ſie mir ergoͤtzlich durch den Sinn. Auch bey der Deklamazion des Markeſe wurde ſie in mir laut, und den Spott auf meinen Lippen errathend, rief er verdrießlich: Stoͤren Sie mich nicht — Sie haben keinen Sinn fuͤr reine Natuͤrlichkeit — Sie ſind ein zerriſſener Menſch, ein zerriſſenes Gemuͤth, ſo zu ſagen, ein Byron. Lieber Leſer, gehoͤrſt Du vielleicht zu jenen frommen Voͤgeln, die da einſtimmen in das Lied von byroniſcher Zerriſſenheit, das mir ſchon ſeit zehn Jahren, in allen Weiſen, vorgepfiffen und vorgezwitſchert worden, und ſogar im Schaͤdel des Markeſe, wie Du oben gehoͤrt haſt, ſein Echo gefunden? Ach, theurer Leſer, wenn Du uͤber jene Zerriſſenheit klagen willſt, ſo beklage lieber, daß die Welt ſelbſt mitten entzwey ge¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder03_1830
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder03_1830/257
Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 3. Hamburg, 1830, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder03_1830/257>, abgerufen am 21.11.2024.