Heine, Heinrich: Buch der Lieder. Hamburg, 1827.VI. "Du gabst, als ich vor'm Jahr dich wiederblickte, Mir keinen Kuß in jener Willkommstund'." So sprach ich, und der Liebsten rother Mund Den schönsten Kuß auf meine Lippen drückte. Und lächelnd süß ein Myrthenreis sie pflückte Vom Myrthenstrauche, der am Fenster stund: "Nimm hin, und pflanz' dies Reis in frischen Grund, Und stell' ein Glas darauf," sprach sie und nickte. -- Schon lang ist's her. Es starb das Reis im Topf'. Sie selbst hab' ich seit Jahren nicht gesehn; Doch brennt der Kuß mir immer noch im Kopf'. Und aus der Ferne trieb's mich jüngst zum Ort, Wo Liebchen wohnt. Vor'm Hause blieb ich stehn Die ganze Nacht, ging erst am Morgen fort. VI. „Du gabſt, als ich vor'm Jahr dich wiederblickte, Mir keinen Kuß in jener Willkommſtund'.“ So ſprach ich, und der Liebſten rother Mund Den ſchönſten Kuß auf meine Lippen drückte. Und lächelnd ſüß ein Myrthenreis ſie pflückte Vom Myrthenſtrauche, der am Fenſter ſtund: „Nimm hin, und pflanz' dies Reis in friſchen Grund, Und ſtell' ein Glas darauf,“ ſprach ſie und nickte. — Schon lang iſt's her. Es ſtarb das Reis im Topf'. Sie ſelbſt hab' ich ſeit Jahren nicht geſehn; Doch brennt der Kuß mir immer noch im Kopf'. Und aus der Ferne trieb's mich jüngſt zum Ort, Wo Liebchen wohnt. Vor'm Hauſe blieb ich ſtehn Die ganze Nacht, ging erſt am Morgen fort. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0108" n="100"/> </div> <div n="4"> <head> <hi rendition="#aq">VI.</hi><lb/> </head> <lg type="poem"> <l>„Du gabſt, als ich vor'm Jahr dich wiederblickte,</l><lb/> <l>Mir keinen Kuß in jener Willkommſtund'.“</l><lb/> <l>So ſprach ich, und der Liebſten rother Mund</l><lb/> <l>Den ſchönſten Kuß auf meine Lippen drückte.</l><lb/> <l>Und lächelnd ſüß ein Myrthenreis ſie pflückte</l><lb/> <l>Vom Myrthenſtrauche, der am Fenſter ſtund:</l><lb/> <l>„Nimm hin, und pflanz' dies Reis in friſchen Grund,</l><lb/> <l>Und ſtell' ein Glas darauf,“ ſprach ſie und nickte. —</l><lb/> <l>Schon lang iſt's her. Es ſtarb das Reis im Topf'.</l><lb/> <l>Sie ſelbſt hab' ich ſeit Jahren nicht geſehn;</l><lb/> <l>Doch brennt der Kuß mir immer noch im Kopf'.</l><lb/> <l>Und aus der Ferne trieb's mich jüngſt zum Ort,</l><lb/> <l>Wo Liebchen wohnt. Vor'm Hauſe blieb ich ſtehn</l><lb/> <l>Die ganze Nacht, ging erſt am Morgen fort.</l><lb/> </lg> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [100/0108]
VI.
„Du gabſt, als ich vor'm Jahr dich wiederblickte,
Mir keinen Kuß in jener Willkommſtund'.“
So ſprach ich, und der Liebſten rother Mund
Den ſchönſten Kuß auf meine Lippen drückte.
Und lächelnd ſüß ein Myrthenreis ſie pflückte
Vom Myrthenſtrauche, der am Fenſter ſtund:
„Nimm hin, und pflanz' dies Reis in friſchen Grund,
Und ſtell' ein Glas darauf,“ ſprach ſie und nickte. —
Schon lang iſt's her. Es ſtarb das Reis im Topf'.
Sie ſelbſt hab' ich ſeit Jahren nicht geſehn;
Doch brennt der Kuß mir immer noch im Kopf'.
Und aus der Ferne trieb's mich jüngſt zum Ort,
Wo Liebchen wohnt. Vor'm Hauſe blieb ich ſtehn
Die ganze Nacht, ging erſt am Morgen fort.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/heine_lieder_1827 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/heine_lieder_1827/108 |
Zitationshilfe: | Heine, Heinrich: Buch der Lieder. Hamburg, 1827, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_lieder_1827/108>, abgerufen am 22.02.2025. |