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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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III. Cellular-Physiologie.
der Athmung und Verdauung wie in den Erscheinungen der
Fortpflanzung und Entwickelung. Die größten Fortschritte führte
hier Müller dadurch herbei, daß er überall von den einfachsten
Lebens-Erscheinungen der niederen Thiere ausging und Schritt
für Schritt ihre allmähliche Ausbildung zu den höheren, bis zum
höchsten, zum Menschen, hinauf verfolgte. Hier bewährte sich
seine Methode der kritischen Vergleichung ebenso in der
Physiologie, wie in der Anatomie. Johannes Müller ist
zugleich der einzige große Naturforscher geblieben, der diese ver-
schiedenen Seiten der Forschung gleichmäßig ausbildete und
gleich glänzend in sich vereinigte. Gleich nach seinem Tode zer-
fiel sein gewaltiges Lehrgebiet in vier verschiedene Provinzen, die
jetzt fast allgemein durch vier oder noch mehr ordentliche Lehr-
stühle vertreten werden: Menschliche und vergleichende Anatomie,
pathologische Anatomie, Physiologie und Entwickelungsgeschichte.
Man hat die Arbeitstheilung dieses ungeheuren Wissensgebietes,
die jetzt (1858) plötzlich eintrat, mit dem Zerfall des Weltreiches
verglichen, welches einst Alexander der Große vereinigt beherrscht
hatte.

Cellular-Physiologie. Unter den zahlreichen Schülern
von Johannes Müller, welche theils schon bei seinen Leb-
zeiten, theils nach seinem Tode die verschiedenen Zweige der
Biologie mächtig förderten, war einer der glücklichsten (wenn
auch nicht der bedeutendste!) Theodor Schwann. Als 1838
der geniale Botaniker Schleiden in Jena die Zelle als das
gemeinsame Elementar-Organ der Pflanzen erkannt und alle
verschiedenen Gewebe des Pflanzenkörpers als zusammengesetzt
aus Zellen nachgewiesen hatte, erkannte Johannes Müller
sofort die außerordentliche Tragweite dieser bedeutungsvollen
Entdeckung; er versuchte selbst, in verschiedenen Geweben des
Thierkörpers, so z. B. in der Chorda dorsalis der Wirbelthiere,
die gleiche Zusammensetzung nachzuweisen, und veranlaßte sodann

III. Cellular-Phyſiologie.
der Athmung und Verdauung wie in den Erſcheinungen der
Fortpflanzung und Entwickelung. Die größten Fortſchritte führte
hier Müller dadurch herbei, daß er überall von den einfachſten
Lebens-Erſcheinungen der niederen Thiere ausging und Schritt
für Schritt ihre allmähliche Ausbildung zu den höheren, bis zum
höchſten, zum Menſchen, hinauf verfolgte. Hier bewährte ſich
ſeine Methode der kritiſchen Vergleichung ebenſo in der
Phyſiologie, wie in der Anatomie. Johannes Müller iſt
zugleich der einzige große Naturforſcher geblieben, der dieſe ver-
ſchiedenen Seiten der Forſchung gleichmäßig ausbildete und
gleich glänzend in ſich vereinigte. Gleich nach ſeinem Tode zer-
fiel ſein gewaltiges Lehrgebiet in vier verſchiedene Provinzen, die
jetzt faſt allgemein durch vier oder noch mehr ordentliche Lehr-
ſtühle vertreten werden: Menſchliche und vergleichende Anatomie,
pathologiſche Anatomie, Phyſiologie und Entwickelungsgeſchichte.
Man hat die Arbeitstheilung dieſes ungeheuren Wiſſensgebietes,
die jetzt (1858) plötzlich eintrat, mit dem Zerfall des Weltreiches
verglichen, welches einſt Alexander der Große vereinigt beherrſcht
hatte.

Cellular-Phyſiologie. Unter den zahlreichen Schülern
von Johannes Müller, welche theils ſchon bei ſeinen Leb-
zeiten, theils nach ſeinem Tode die verſchiedenen Zweige der
Biologie mächtig förderten, war einer der glücklichſten (wenn
auch nicht der bedeutendſte!) Theodor Schwann. Als 1838
der geniale Botaniker Schleiden in Jena die Zelle als das
gemeinſame Elementar-Organ der Pflanzen erkannt und alle
verſchiedenen Gewebe des Pflanzenkörpers als zuſammengeſetzt
aus Zellen nachgewieſen hatte, erkannte Johannes Müller
ſofort die außerordentliche Tragweite dieſer bedeutungsvollen
Entdeckung; er verſuchte ſelbſt, in verſchiedenen Geweben des
Thierkörpers, ſo z. B. in der Chorda dorſaliſ der Wirbelthiere,
die gleiche Zuſammenſetzung nachzuweiſen, und veranlaßte ſodann

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[55/0071] III. Cellular-Phyſiologie. der Athmung und Verdauung wie in den Erſcheinungen der Fortpflanzung und Entwickelung. Die größten Fortſchritte führte hier Müller dadurch herbei, daß er überall von den einfachſten Lebens-Erſcheinungen der niederen Thiere ausging und Schritt für Schritt ihre allmähliche Ausbildung zu den höheren, bis zum höchſten, zum Menſchen, hinauf verfolgte. Hier bewährte ſich ſeine Methode der kritiſchen Vergleichung ebenſo in der Phyſiologie, wie in der Anatomie. Johannes Müller iſt zugleich der einzige große Naturforſcher geblieben, der dieſe ver- ſchiedenen Seiten der Forſchung gleichmäßig ausbildete und gleich glänzend in ſich vereinigte. Gleich nach ſeinem Tode zer- fiel ſein gewaltiges Lehrgebiet in vier verſchiedene Provinzen, die jetzt faſt allgemein durch vier oder noch mehr ordentliche Lehr- ſtühle vertreten werden: Menſchliche und vergleichende Anatomie, pathologiſche Anatomie, Phyſiologie und Entwickelungsgeſchichte. Man hat die Arbeitstheilung dieſes ungeheuren Wiſſensgebietes, die jetzt (1858) plötzlich eintrat, mit dem Zerfall des Weltreiches verglichen, welches einſt Alexander der Große vereinigt beherrſcht hatte. Cellular-Phyſiologie. Unter den zahlreichen Schülern von Johannes Müller, welche theils ſchon bei ſeinen Leb- zeiten, theils nach ſeinem Tode die verſchiedenen Zweige der Biologie mächtig förderten, war einer der glücklichſten (wenn auch nicht der bedeutendſte!) Theodor Schwann. Als 1838 der geniale Botaniker Schleiden in Jena die Zelle als das gemeinſame Elementar-Organ der Pflanzen erkannt und alle verſchiedenen Gewebe des Pflanzenkörpers als zuſammengeſetzt aus Zellen nachgewieſen hatte, erkannte Johannes Müller ſofort die außerordentliche Tragweite dieſer bedeutungsvollen Entdeckung; er verſuchte ſelbſt, in verſchiedenen Geweben des Thierkörpers, ſo z. B. in der Chorda dorſaliſ der Wirbelthiere, die gleiche Zuſammenſetzung nachzuweiſen, und veranlaßte ſodann

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/71>, abgerufen am 27.04.2024.