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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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VIII. Existenz-Beginn der Seele.

Die psychologischen Erkenntnisse, welche sich aus diesen
merkwürdigen, erst in den letzten 25 Jahren sicher beobachteten
Thatsachen der Befruchtung ergeben, sind überaus wichtig und
bisher nicht entfernt in ihrer allgemeinen Bedeutung gewürdigt.
Wir fassen die wesentlichsten Folgerungen in folgenden fünf
Sätzen zusammen: I. Jedes menschliche Individuum ist, wie
jedes andere höhere Thier, im Beginne seiner Existenz eine ein-
fache Zelle. II. Diese Stammzelle (Cytula) entsteht überall auf
dieselbe Weise, durch Verschmelzung oder Kopulation von zwei
getrennten Zellen verschiedenen Ursprungs, der weiblichen Ei-
zelle (Ovulum) und der männlichen Spermazelle (Spermium).
III. Beide Geschlechtszellen besitzen eine verschiedene "Zellseele",
d. h. beide sind durch eine besondere Form von Empfindung und
von Bewegung ausgezeichnet. IV. In dem Momente der Be-
fruchtung oder Empfängniß verschmelzen nicht nur die Plasma-
körper der beiden Geschlechtszellen und ihre Kerne, sondern auch
die "Seelen" derselben; d. h. die Spannkräfte, welche in beiden
enthalten und an die Materie des Plasma untrennbar gebunden
sind, vereinigen sich zur Bildung einer neuen Spannkraft, des
"Seelenkeimes" der neugebildeten Stammzelle. V. Daher besitzt
jede Person leibliche und geistige Eigenschaften von beiden Eltern;
durch Vererbung überträgt der Kern der Eizelle einen Theil der
mütterlichen, der Kern der Spermazelle einen Theil der väter-
lichen Eigenschaften.

Durch diese empirisch erkannten Erscheinungen der Konception
wird ferner die höchst wichtige Thatsache festgestellt, daß jeder
Mensch wie jedes andere Thier einen Beginn der indivi-
duellen Existenz
hat; die völlige Kopulation der beiden
sexuellen Zellkerne bezeichnet haarscharf den Augenblick, in welchem
nicht nur der Körper der neuen Stammzelle entsteht, sondern
auch ihre "Seele". Durch diese Thatsache allein schon wird der
alte Mythus von der Unsterblichkeit der Seele widerlegt,

Haeckel, Welträthsel. 11
VIII. Exiſtenz-Beginn der Seele.

Die pſychologiſchen Erkenntniſſe, welche ſich aus dieſen
merkwürdigen, erſt in den letzten 25 Jahren ſicher beobachteten
Thatſachen der Befruchtung ergeben, ſind überaus wichtig und
bisher nicht entfernt in ihrer allgemeinen Bedeutung gewürdigt.
Wir faſſen die weſentlichſten Folgerungen in folgenden fünf
Sätzen zuſammen: I. Jedes menſchliche Individuum iſt, wie
jedes andere höhere Thier, im Beginne ſeiner Exiſtenz eine ein-
fache Zelle. II. Dieſe Stammzelle (Cytula) entſteht überall auf
dieſelbe Weiſe, durch Verſchmelzung oder Kopulation von zwei
getrennten Zellen verſchiedenen Urſprungs, der weiblichen Ei-
zelle (Ovulum) und der männlichen Spermazelle (Spermium).
III. Beide Geſchlechtszellen beſitzen eine verſchiedene „Zellſeele“,
d. h. beide ſind durch eine beſondere Form von Empfindung und
von Bewegung ausgezeichnet. IV. In dem Momente der Be-
fruchtung oder Empfängniß verſchmelzen nicht nur die Plasma-
körper der beiden Geſchlechtszellen und ihre Kerne, ſondern auch
die „Seelen“ derſelben; d. h. die Spannkräfte, welche in beiden
enthalten und an die Materie des Plasma untrennbar gebunden
ſind, vereinigen ſich zur Bildung einer neuen Spannkraft, des
„Seelenkeimes“ der neugebildeten Stammzelle. V. Daher beſitzt
jede Perſon leibliche und geiſtige Eigenſchaften von beiden Eltern;
durch Vererbung überträgt der Kern der Eizelle einen Theil der
mütterlichen, der Kern der Spermazelle einen Theil der väter-
lichen Eigenſchaften.

Durch dieſe empiriſch erkannten Erſcheinungen der Konception
wird ferner die höchſt wichtige Thatſache feſtgeſtellt, daß jeder
Menſch wie jedes andere Thier einen Beginn der indivi-
duellen Exiſtenz
hat; die völlige Kopulation der beiden
ſexuellen Zellkerne bezeichnet haarſcharf den Augenblick, in welchem
nicht nur der Körper der neuen Stammzelle entſteht, ſondern
auch ihre „Seele“. Durch dieſe Thatſache allein ſchon wird der
alte Mythus von der Unſterblichkeit der Seele widerlegt,

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[161/0177] VIII. Exiſtenz-Beginn der Seele. Die pſychologiſchen Erkenntniſſe, welche ſich aus dieſen merkwürdigen, erſt in den letzten 25 Jahren ſicher beobachteten Thatſachen der Befruchtung ergeben, ſind überaus wichtig und bisher nicht entfernt in ihrer allgemeinen Bedeutung gewürdigt. Wir faſſen die weſentlichſten Folgerungen in folgenden fünf Sätzen zuſammen: I. Jedes menſchliche Individuum iſt, wie jedes andere höhere Thier, im Beginne ſeiner Exiſtenz eine ein- fache Zelle. II. Dieſe Stammzelle (Cytula) entſteht überall auf dieſelbe Weiſe, durch Verſchmelzung oder Kopulation von zwei getrennten Zellen verſchiedenen Urſprungs, der weiblichen Ei- zelle (Ovulum) und der männlichen Spermazelle (Spermium). III. Beide Geſchlechtszellen beſitzen eine verſchiedene „Zellſeele“, d. h. beide ſind durch eine beſondere Form von Empfindung und von Bewegung ausgezeichnet. IV. In dem Momente der Be- fruchtung oder Empfängniß verſchmelzen nicht nur die Plasma- körper der beiden Geſchlechtszellen und ihre Kerne, ſondern auch die „Seelen“ derſelben; d. h. die Spannkräfte, welche in beiden enthalten und an die Materie des Plasma untrennbar gebunden ſind, vereinigen ſich zur Bildung einer neuen Spannkraft, des „Seelenkeimes“ der neugebildeten Stammzelle. V. Daher beſitzt jede Perſon leibliche und geiſtige Eigenſchaften von beiden Eltern; durch Vererbung überträgt der Kern der Eizelle einen Theil der mütterlichen, der Kern der Spermazelle einen Theil der väter- lichen Eigenſchaften. Durch dieſe empiriſch erkannten Erſcheinungen der Konception wird ferner die höchſt wichtige Thatſache feſtgeſtellt, daß jeder Menſch wie jedes andere Thier einen Beginn der indivi- duellen Exiſtenz hat; die völlige Kopulation der beiden ſexuellen Zellkerne bezeichnet haarſcharf den Augenblick, in welchem nicht nur der Körper der neuen Stammzelle entſteht, ſondern auch ihre „Seele“. Durch dieſe Thatſache allein ſchon wird der alte Mythus von der Unſterblichkeit der Seele widerlegt, Haeckel, Welträthſel. 11

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/177>, abgerufen am 27.04.2024.