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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Methoden der exakten Psychologie. VI.

Exakte Psychologie. Je reicher im Laufe unseres Jahr-
hunderts sich die verschiedenen Zweige des menschlichen Er-
kenntniß-Baumes entwickelt, je mehr sich die verschiedenen Me-
thoden der einzelnen Wissenschaften vervollkommnet haben, desto
mehr ist das Bestreben gewachsen, dieselben exakt zu gestalten,
d. h. die Erscheinungen möglichst genau empirisch zu unter-
suchen und die daraus abzuleitenden Gesetze thunlichst scharf,
wo möglich mathematisch zu formuliren. Letzteres ist aber
nur bei einem kleinen Theile des menschlichen Wissens erreichbar,
vorzüglich in jenen Wissenschaften, bei denen es sich in der
Hauptsache um meßbare Größen-Bestimmungen handelt: in erster
Linie der Mathematik, sodann der Astronomie, der Mechanik,
überhaupt einem großen Theile der Physik und Chemie. Diese
Wissenschaften werden daher auch als exakte Disciplinen
im engeren Sinne bezeichnet. Dagegen ist es nicht richtig und
führt nur irre, wenn man oft alle Naturwissenschaften als
"exakte" betrachtet und anderen, namentlich den historischen und
den "Geisteswissenschaften" gegenüberstellt. Denn ebenso wenig
als diese letzteren kann auch der größere Theil der Naturwissen-
schaft wirklich exakt behandelt werden; ganz besonders gilt dies
von der Biologie und in dieser wieder von der Psychologie.
Da diese letztere nur ein Theil der Physiologie ist, muß sie im
Allgemeinen deren fundamentale Erkenntniß-Wege theilen. Sie
muß die thatsächlichen Erscheinungen des Seelenlebens möglichst
genau empirisch begründen, durch Beobachtung und durch
Experiment; und sie muß dann die Gesetze der Psyche aus diesen
durch induktive und deduktive Schlüsse ableiten und möglichst
scharf formuliren. Allein eine mathematische Formulirung
derselben ist aus leicht begreiflichen Gründen nur sehr selten
möglich; sie ist mit großem Erfolge nur bei einem Theile der
Sinnes-Physiologie ausgeführt; dagegen für den weitaus größten
Theil der Gehirn-Physiologie ist sie nicht anwendbar.

Methoden der exakten Pſychologie. VI.

Exakte Pſychologie. Je reicher im Laufe unſeres Jahr-
hunderts ſich die verſchiedenen Zweige des menſchlichen Er-
kenntniß-Baumes entwickelt, je mehr ſich die verſchiedenen Me-
thoden der einzelnen Wiſſenſchaften vervollkommnet haben, deſto
mehr iſt das Beſtreben gewachſen, dieſelben exakt zu geſtalten,
d. h. die Erſcheinungen möglichſt genau empiriſch zu unter-
ſuchen und die daraus abzuleitenden Geſetze thunlichſt ſcharf,
wo möglich mathematiſch zu formuliren. Letzteres iſt aber
nur bei einem kleinen Theile des menſchlichen Wiſſens erreichbar,
vorzüglich in jenen Wiſſenſchaften, bei denen es ſich in der
Hauptſache um meßbare Größen-Beſtimmungen handelt: in erſter
Linie der Mathematik, ſodann der Aſtronomie, der Mechanik,
überhaupt einem großen Theile der Phyſik und Chemie. Dieſe
Wiſſenſchaften werden daher auch als exakte Disciplinen
im engeren Sinne bezeichnet. Dagegen iſt es nicht richtig und
führt nur irre, wenn man oft alle Naturwiſſenſchaften als
„exakte“ betrachtet und anderen, namentlich den hiſtoriſchen und
den „Geiſteswiſſenſchaften“ gegenüberſtellt. Denn ebenſo wenig
als dieſe letzteren kann auch der größere Theil der Naturwiſſen-
ſchaft wirklich exakt behandelt werden; ganz beſonders gilt dies
von der Biologie und in dieſer wieder von der Pſychologie.
Da dieſe letztere nur ein Theil der Phyſiologie iſt, muß ſie im
Allgemeinen deren fundamentale Erkenntniß-Wege theilen. Sie
muß die thatſächlichen Erſcheinungen des Seelenlebens möglichſt
genau empiriſch begründen, durch Beobachtung und durch
Experiment; und ſie muß dann die Geſetze der Pſyche aus dieſen
durch induktive und deduktive Schlüſſe ableiten und möglichſt
ſcharf formuliren. Allein eine mathematiſche Formulirung
derſelben iſt aus leicht begreiflichen Gründen nur ſehr ſelten
möglich; ſie iſt mit großem Erfolge nur bei einem Theile der
Sinnes-Phyſiologie ausgeführt; dagegen für den weitaus größten
Theil der Gehirn-Phyſiologie iſt ſie nicht anwendbar.

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[112/0128] Methoden der exakten Pſychologie. VI. Exakte Pſychologie. Je reicher im Laufe unſeres Jahr- hunderts ſich die verſchiedenen Zweige des menſchlichen Er- kenntniß-Baumes entwickelt, je mehr ſich die verſchiedenen Me- thoden der einzelnen Wiſſenſchaften vervollkommnet haben, deſto mehr iſt das Beſtreben gewachſen, dieſelben exakt zu geſtalten, d. h. die Erſcheinungen möglichſt genau empiriſch zu unter- ſuchen und die daraus abzuleitenden Geſetze thunlichſt ſcharf, wo möglich mathematiſch zu formuliren. Letzteres iſt aber nur bei einem kleinen Theile des menſchlichen Wiſſens erreichbar, vorzüglich in jenen Wiſſenſchaften, bei denen es ſich in der Hauptſache um meßbare Größen-Beſtimmungen handelt: in erſter Linie der Mathematik, ſodann der Aſtronomie, der Mechanik, überhaupt einem großen Theile der Phyſik und Chemie. Dieſe Wiſſenſchaften werden daher auch als exakte Disciplinen im engeren Sinne bezeichnet. Dagegen iſt es nicht richtig und führt nur irre, wenn man oft alle Naturwiſſenſchaften als „exakte“ betrachtet und anderen, namentlich den hiſtoriſchen und den „Geiſteswiſſenſchaften“ gegenüberſtellt. Denn ebenſo wenig als dieſe letzteren kann auch der größere Theil der Naturwiſſen- ſchaft wirklich exakt behandelt werden; ganz beſonders gilt dies von der Biologie und in dieſer wieder von der Pſychologie. Da dieſe letztere nur ein Theil der Phyſiologie iſt, muß ſie im Allgemeinen deren fundamentale Erkenntniß-Wege theilen. Sie muß die thatſächlichen Erſcheinungen des Seelenlebens möglichſt genau empiriſch begründen, durch Beobachtung und durch Experiment; und ſie muß dann die Geſetze der Pſyche aus dieſen durch induktive und deduktive Schlüſſe ableiten und möglichſt ſcharf formuliren. Allein eine mathematiſche Formulirung derſelben iſt aus leicht begreiflichen Gründen nur ſehr ſelten möglich; ſie iſt mit großem Erfolge nur bei einem Theile der Sinnes-Phyſiologie ausgeführt; dagegen für den weitaus größten Theil der Gehirn-Phyſiologie iſt ſie nicht anwendbar.

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/128>, abgerufen am 26.04.2024.