Das praktische Leben stellt an den Menschen eine Reihe von ganz bestimmten sittlichen Anforderungen, die nur dann richtig und naturgemäß erfüllt werden können, wenn sie in reinem Einklang mit seiner vernünftigen Weltanschauung stehen. Diesem Grundsatze unserer monistischen Philosophie zu Folge muß unsere gesammte Sittenlehre oder Ethik in vernünftigem Zusammenhang mit der einheitlichen Auffassung des "Kosmos" stehen, welche wir durch unsere fortgeschrittene Erkenntniß der Natur-Gesetze gewonnen haben. Wie das ganze unendliche Uni- versum im Lichte unseres Monismus ein einziges großes Ganzes darstellt, so bildet auch das geistige und sittliche Leben des Menschen nur einen Theil dieses "Kosmos", und so kann auch unsere naturgemäße Ordnung desselben nur eine einheitliche sein. Es giebt nicht zwei verschiedene, getrennte Welten: eine physische, materielle und eine moralische, imma- terielle Welt.
Ganz entgegengesetzter Ansicht ist die große Mehrzahl der Philosophen und Theologen noch heute; sie behaupten mit Immanuel Kant, daß die sittliche Welt von der physischen ganz unabhängig sei und ganz anderen Gesetzen gehorche; also müsse auch das sittliche Bewußtsein des Menschen, als die Basis des moralischen Lebens, ganz unabhängig von der wissenschaftlichen Welterkenntniß sein und sich viel-
Haeckel, Welträthsel. 26
Das praktiſche Leben ſtellt an den Menſchen eine Reihe von ganz beſtimmten ſittlichen Anforderungen, die nur dann richtig und naturgemäß erfüllt werden können, wenn ſie in reinem Einklang mit ſeiner vernünftigen Weltanſchauung ſtehen. Dieſem Grundſatze unſerer moniſtiſchen Philoſophie zu Folge muß unſere geſammte Sittenlehre oder Ethik in vernünftigem Zuſammenhang mit der einheitlichen Auffaſſung des „Kosmos“ ſtehen, welche wir durch unſere fortgeſchrittene Erkenntniß der Natur-Geſetze gewonnen haben. Wie das ganze unendliche Uni- verſum im Lichte unſeres Monismus ein einziges großes Ganzes darſtellt, ſo bildet auch das geiſtige und ſittliche Leben des Menſchen nur einen Theil dieſes „Kosmos“, und ſo kann auch unſere naturgemäße Ordnung desſelben nur eine einheitliche ſein. Es giebt nicht zwei verſchiedene, getrennte Welten: eine phyſiſche, materielle und eine moraliſche, imma- terielle Welt.
Ganz entgegengeſetzter Anſicht iſt die große Mehrzahl der Philoſophen und Theologen noch heute; ſie behaupten mit Immanuel Kant, daß die ſittliche Welt von der phyſiſchen ganz unabhängig ſei und ganz anderen Geſetzen gehorche; alſo müſſe auch das ſittliche Bewußtſein des Menſchen, als die Baſis des moraliſchen Lebens, ganz unabhängig von der wiſſenſchaftlichen Welterkenntniß ſein und ſich viel-
Haeckel, Welträthſel. 26
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[[401]/0417]
Das praktiſche Leben ſtellt an den Menſchen eine Reihe
von ganz beſtimmten ſittlichen Anforderungen, die nur dann
richtig und naturgemäß erfüllt werden können, wenn ſie in
reinem Einklang mit ſeiner vernünftigen Weltanſchauung ſtehen.
Dieſem Grundſatze unſerer moniſtiſchen Philoſophie zu Folge
muß unſere geſammte Sittenlehre oder Ethik in vernünftigem
Zuſammenhang mit der einheitlichen Auffaſſung des „Kosmos“
ſtehen, welche wir durch unſere fortgeſchrittene Erkenntniß der
Natur-Geſetze gewonnen haben. Wie das ganze unendliche Uni-
verſum im Lichte unſeres Monismus ein einziges großes Ganzes
darſtellt, ſo bildet auch das geiſtige und ſittliche Leben des
Menſchen nur einen Theil dieſes „Kosmos“, und ſo kann auch
unſere naturgemäße Ordnung desſelben nur eine einheitliche ſein.
Es giebt nicht zwei verſchiedene, getrennte Welten:
eine phyſiſche, materielle und eine moraliſche, imma-
terielle Welt.
Ganz entgegengeſetzter Anſicht iſt die große Mehrzahl der
Philoſophen und Theologen noch heute; ſie behaupten mit
Immanuel Kant, daß die ſittliche Welt von der phyſiſchen
ganz unabhängig ſei und ganz anderen Geſetzen gehorche; alſo
müſſe auch das ſittliche Bewußtſein des Menſchen, als
die Baſis des moraliſchen Lebens, ganz unabhängig von der
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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. [401]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/417>, abgerufen am 21.11.2024.
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