Alle Arbeit wahrer Wissenschaft geht auf Erkenntniß der Wahrheit. Unser echtes und werthvolles Wissen ist realer Natur und besteht aus Vorstellungen, welche wirklich existirenden Dingen entsprechen. Wir sind zwar unfähig, das innerste Wesen dieser realen Welt -- "das Ding an sich" -- zu erkennen, aber unbefangene und kritische Beobachtung und Vergleichung über- zeugt uns, daß bei normaler Beschaffenheit des Gehirns und der Sinnesorgane die Eindrücke der Außenwelt auf diese bei allen vernünftigen Menschen dieselben sind, und daß bei normaler Funktion der Denkorgane bestimmte, überall gleiche Vorstellungen gebildet werden; diese nennen wir wahr und sind dabei über- zeugt, daß ihr Inhalt dem erkennbaren Theile der Dinge ent- spricht. Wir wissen, daß diese Thatsachen nicht eingebildet, sondern wirklich sind.
Erkenntniß-Quellen. Alle Erkenntniß der Wahrheit beruht auf zwei verschiedenen, aber innig zusammenhängenden Gruppen von physiologischen Funktionen des Menschen: erstens auf der Empfindung der Objekte mittelst der Sinnesthätigkeit und zweitens auf der Verbindung der so gewonnenen Eindrücke durch Associon zur Vorstellung im Subjekt. Die Werkzeuge der Em- pfindung sind die Sinnesorgane (Sensillen oder Aestheten); die Werkzeuge, welche die Vorstellungen bilden und verknüpfen, sind die Denkorgane(Phroneten). Diese letzteren sind Theile
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Alle Arbeit wahrer Wiſſenſchaft geht auf Erkenntniß der Wahrheit. Unſer echtes und werthvolles Wiſſen iſt realer Natur und beſteht aus Vorſtellungen, welche wirklich exiſtirenden Dingen entſprechen. Wir ſind zwar unfähig, das innerſte Weſen dieſer realen Welt — „das Ding an ſich“ — zu erkennen, aber unbefangene und kritiſche Beobachtung und Vergleichung über- zeugt uns, daß bei normaler Beſchaffenheit des Gehirns und der Sinnesorgane die Eindrücke der Außenwelt auf dieſe bei allen vernünftigen Menſchen dieſelben ſind, und daß bei normaler Funktion der Denkorgane beſtimmte, überall gleiche Vorſtellungen gebildet werden; dieſe nennen wir wahr und ſind dabei über- zeugt, daß ihr Inhalt dem erkennbaren Theile der Dinge ent- ſpricht. Wir wiſſen, daß dieſe Thatſachen nicht eingebildet, ſondern wirklich ſind.
Erkenntniß-Quellen. Alle Erkenntniß der Wahrheit beruht auf zwei verſchiedenen, aber innig zuſammenhängenden Gruppen von phyſiologiſchen Funktionen des Menſchen: erſtens auf der Empfindung der Objekte mittelſt der Sinnesthätigkeit und zweitens auf der Verbindung der ſo gewonnenen Eindrücke durch Aſſocion zur Vorſtellung im Subjekt. Die Werkzeuge der Em- pfindung ſind die Sinnesorgane (Senſillen oder Aeſtheten); die Werkzeuge, welche die Vorſtellungen bilden und verknüpfen, ſind die Denkorgane(Phroneten). Dieſe letzteren ſind Theile
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Alle Arbeit wahrer Wiſſenſchaft geht auf Erkenntniß der
Wahrheit. Unſer echtes und werthvolles Wiſſen iſt realer
Natur und beſteht aus Vorſtellungen, welche wirklich exiſtirenden
Dingen entſprechen. Wir ſind zwar unfähig, das innerſte Weſen
dieſer realen Welt — „das Ding an ſich“ — zu erkennen, aber
unbefangene und kritiſche Beobachtung und Vergleichung über-
zeugt uns, daß bei normaler Beſchaffenheit des Gehirns und
der Sinnesorgane die Eindrücke der Außenwelt auf dieſe bei
allen vernünftigen Menſchen dieſelben ſind, und daß bei normaler
Funktion der Denkorgane beſtimmte, überall gleiche Vorſtellungen
gebildet werden; dieſe nennen wir wahr und ſind dabei über-
zeugt, daß ihr Inhalt dem erkennbaren Theile der Dinge ent-
ſpricht. Wir wiſſen, daß dieſe Thatſachen nicht eingebildet,
ſondern wirklich ſind.
Erkenntniß-Quellen. Alle Erkenntniß der Wahrheit beruht
auf zwei verſchiedenen, aber innig zuſammenhängenden Gruppen
von phyſiologiſchen Funktionen des Menſchen: erſtens auf der
Empfindung der Objekte mittelſt der Sinnesthätigkeit und
zweitens auf der Verbindung der ſo gewonnenen Eindrücke durch
Aſſocion zur Vorſtellung im Subjekt. Die Werkzeuge der Em-
pfindung ſind die Sinnesorgane (Senſillen oder Aeſtheten);
die Werkzeuge, welche die Vorſtellungen bilden und verknüpfen,
ſind die Denkorgane (Phroneten). Dieſe letzteren ſind Theile
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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. [339]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/355>, abgerufen am 21.11.2024.
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