Die Erscheinungen, welche man allgemein unter dem Begriffe des Seelenlebens oder der psychischen Thätigkeit zusammen- faßt, sind unter allen uns bekannten Phänomenen einerseits die wichtigsten und interessantesten, anderseits die verwickeltsten und räthselhaftesten. Da die Natur-Erkenntniß selbst, die Aufgabe unserer vorliegenden philosophischen Studien, ein Theil des Seelenlebens ist, und da mithin auch die Anthropologie, ebenso wie die Kosmologie, eine richtige Erkenntniß der "Psyche" zur Voraussetzung hat, so kann man die Psychologie, die wirklich wissenschaftliche Seelenlehre, auch als das Fundament und als die Voraussetzung aller anderen Wissenschaften ansehen; von der anderen Seite betrachtet, ist sie wieder ein Theil der Philosophie oder der Physiologie oder der Anthropologie.
Die große Schwierigkeit ihrer naturgemäßen Begründung liegt nun aber darin, daß die Psychologie wiederum die genaue Kenntniß des menschlichen Organismus voraussetzt und vor Allem des Gehirns, als des wichtigsten Organs des Seelenlebens. Die große Mehrzahl der sogenannten "Psycho- logen" besitzt jedoch von diesen anatomischen Grundlagen der Psyche nur sehr unvollständige oder gar keine Kenntniß, und so erklärt sich die bedauerliche Thatsache, daß in keiner anderen Wissenschaft so widersprechende und unhaltbare Vorstellungen über ihren eigenen Begriff und ihre wesentliche Aufgabe herrschen,
Die Erſcheinungen, welche man allgemein unter dem Begriffe des Seelenlebens oder der pſychiſchen Thätigkeit zuſammen- faßt, ſind unter allen uns bekannten Phänomenen einerſeits die wichtigſten und intereſſanteſten, anderſeits die verwickeltſten und räthſelhafteſten. Da die Natur-Erkenntniß ſelbſt, die Aufgabe unſerer vorliegenden philoſophiſchen Studien, ein Theil des Seelenlebens iſt, und da mithin auch die Anthropologie, ebenſo wie die Kosmologie, eine richtige Erkenntniß der „Pſyche“ zur Vorausſetzung hat, ſo kann man die Pſychologie, die wirklich wiſſenſchaftliche Seelenlehre, auch als das Fundament und als die Vorausſetzung aller anderen Wiſſenſchaften anſehen; von der anderen Seite betrachtet, iſt ſie wieder ein Theil der Philoſophie oder der Phyſiologie oder der Anthropologie.
Die große Schwierigkeit ihrer naturgemäßen Begründung liegt nun aber darin, daß die Pſychologie wiederum die genaue Kenntniß des menſchlichen Organismus vorausſetzt und vor Allem des Gehirns, als des wichtigſten Organs des Seelenlebens. Die große Mehrzahl der ſogenannten „Pſycho- logen“ beſitzt jedoch von dieſen anatomiſchen Grundlagen der Pſyche nur ſehr unvollſtändige oder gar keine Kenntniß, und ſo erklärt ſich die bedauerliche Thatſache, daß in keiner anderen Wiſſenſchaft ſo widerſprechende und unhaltbare Vorſtellungen über ihren eigenen Begriff und ihre weſentliche Aufgabe herrſchen,
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Die Erſcheinungen, welche man allgemein unter dem Begriffe
des Seelenlebens oder der pſychiſchen Thätigkeit zuſammen-
faßt, ſind unter allen uns bekannten Phänomenen einerſeits die
wichtigſten und intereſſanteſten, anderſeits die verwickeltſten und
räthſelhafteſten. Da die Natur-Erkenntniß ſelbſt, die Aufgabe
unſerer vorliegenden philoſophiſchen Studien, ein Theil des
Seelenlebens iſt, und da mithin auch die Anthropologie, ebenſo
wie die Kosmologie, eine richtige Erkenntniß der „Pſyche“ zur
Vorausſetzung hat, ſo kann man die Pſychologie, die wirklich
wiſſenſchaftliche Seelenlehre, auch als das Fundament und als
die Vorausſetzung aller anderen Wiſſenſchaften anſehen; von der
anderen Seite betrachtet, iſt ſie wieder ein Theil der Philoſophie
oder der Phyſiologie oder der Anthropologie.
Die große Schwierigkeit ihrer naturgemäßen Begründung
liegt nun aber darin, daß die Pſychologie wiederum die genaue
Kenntniß des menſchlichen Organismus vorausſetzt und vor
Allem des Gehirns, als des wichtigſten Organs des
Seelenlebens. Die große Mehrzahl der ſogenannten „Pſycho-
logen“ beſitzt jedoch von dieſen anatomiſchen Grundlagen der
Pſyche nur ſehr unvollſtändige oder gar keine Kenntniß, und ſo
erklärt ſich die bedauerliche Thatſache, daß in keiner anderen
Wiſſenſchaft ſo widerſprechende und unhaltbare Vorſtellungen über
ihren eigenen Begriff und ihre weſentliche Aufgabe herrſchen,
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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. [103]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/119>, abgerufen am 23.11.2024.
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