Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

Bild:
<< vorherige Seite
Aeußere Beweise.


I. Gesellschaft, (Schule?)

Wir haben gesehen, daß ein nämliches Princip in der
ganzen Zeit des Meistersangs herrscht, ohne daß es selöst durch
eine schriftliche Urkunde aufgestellt worden. Halten sich doch
spätere Tabulaturen, von welchen Kenntniß auf uns gelangt
ist, nicht eigentlich an den Grundsatz, als an eine bekannte
Sache, vielmehr bestimmen sie allerhand auswendig hinzugetre-
tene Regeln und Gebräuche. Es ist recht merkwürdig, daß in
keinem der mir vorgekommenen, Schulkunst überschriebenen
Meisterlieder ein Wort von Stoll oder Abgesang und deren
Unerläßlichkeit stehet.

Selbst Anfangs mag hierüber nichts ausdrücklich verabre-
det worden seyn. Die Regel mußte einmal durch sich selbst
gelten und galt so fort. Durch Lehre 57) und Nachahmung
entstand der Meistergesang. Die, welche ihn ausübten, waren
deßhalb in keiner gewissen Gesellschaft, wohl aber in einer
Classe; sie mögen sich immer für ihres Gleichen anerkannt
und etwa in einem solchen Verhältniß gestanden haben, wie es
später, z. B. zwischen einem Nürnberger und Straßburger
Meister eintrat 58). Schon das unstete Leben der ersten Mei-
ster schließt ein fixirtes Zusammenleben aus; was die ausge-

57) Walter sagt (1. 132.): "zu Oestreich lernte ich fingen und
sagen." Friedr. von Sonnenburg in der bekannten, früher
mißverstandenen Stelle: "das rieth mir der von Nif und
andere gute Meister nicht." (Nach Docen ist dieser Nif ein
bloßer Minnesinger.)
58) Gervelyn singt CCIV. vom Mysner, wo er ihn des Ver-
dachts schuldlos befinde, sey er "sein gut Geselle." 2. 226.
"min geselle Spervogel." Walter 132. "blasgeselle" (?)
Aeußere Beweiſe.


I. Geſellſchaft, (Schule?)

Wir haben geſehen, daß ein naͤmliches Princip in der
ganzen Zeit des Meiſterſangs herrſcht, ohne daß es ſeloͤſt durch
eine ſchriftliche Urkunde aufgeſtellt worden. Halten ſich doch
ſpaͤtere Tabulaturen, von welchen Kenntniß auf uns gelangt
iſt, nicht eigentlich an den Grundſatz, als an eine bekannte
Sache, vielmehr beſtimmen ſie allerhand auswendig hinzugetre-
tene Regeln und Gebraͤuche. Es iſt recht merkwuͤrdig, daß in
keinem der mir vorgekommenen, Schulkunſt uͤberſchriebenen
Meiſterlieder ein Wort von Stoll oder Abgeſang und deren
Unerlaͤßlichkeit ſtehet.

Selbſt Anfangs mag hieruͤber nichts ausdruͤcklich verabre-
det worden ſeyn. Die Regel mußte einmal durch ſich ſelbſt
gelten und galt ſo fort. Durch Lehre 57) und Nachahmung
entſtand der Meiſtergeſang. Die, welche ihn ausuͤbten, waren
deßhalb in keiner gewiſſen Geſellſchaft, wohl aber in einer
Claſſe; ſie moͤgen ſich immer fuͤr ihres Gleichen anerkannt
und etwa in einem ſolchen Verhaͤltniß geſtanden haben, wie es
ſpaͤter, z. B. zwiſchen einem Nuͤrnberger und Straßburger
Meiſter eintrat 58). Schon das unſtete Leben der erſten Mei-
ſter ſchließt ein fixirtes Zuſammenleben aus; was die ausge-

57) Walter ſagt (1. 132.): „zu Oeſtreich lernte ich fingen und
ſagen.“ Friedr. von Sonnenburg in der bekannten, fruͤher
mißverſtandenen Stelle: „das rieth mir der von Nif und
andere gute Meiſter nicht.“ (Nach Docen iſt dieſer Nif ein
bloßer Minneſinger.)
58) Gervelyn ſingt CCIV. vom Myſner, wo er ihn des Ver-
dachts ſchuldlos befinde, ſey er „ſein gut Geſelle.“ 2. 226.
„min geſelle Spervogel.“ Walter 132. „blasgeſelle“ (?)
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0085" n="75"/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#g">Aeußere Bewei&#x017F;e</hi>.</head><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#aq">I.</hi> <hi rendition="#g"> <hi rendition="#fr">Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft, (Schule?)</hi> </hi> </head><lb/>
            <p>Wir haben ge&#x017F;ehen, daß ein na&#x0364;mliches Princip in der<lb/>
ganzen Zeit des Mei&#x017F;ter&#x017F;angs herr&#x017F;cht, ohne daß es &#x017F;elo&#x0364;&#x017F;t durch<lb/>
eine &#x017F;chriftliche Urkunde aufge&#x017F;tellt worden. Halten &#x017F;ich doch<lb/>
&#x017F;pa&#x0364;tere Tabulaturen, von welchen Kenntniß auf uns gelangt<lb/>
i&#x017F;t, nicht eigentlich an den Grund&#x017F;atz, als an eine bekannte<lb/>
Sache, vielmehr be&#x017F;timmen &#x017F;ie allerhand auswendig hinzugetre-<lb/>
tene Regeln und Gebra&#x0364;uche. Es i&#x017F;t recht merkwu&#x0364;rdig, daß in<lb/>
keinem der mir vorgekommenen, Schulkun&#x017F;t u&#x0364;ber&#x017F;chriebenen<lb/>
Mei&#x017F;terlieder ein Wort von Stoll oder Abge&#x017F;ang und deren<lb/>
Unerla&#x0364;ßlichkeit &#x017F;tehet.</p><lb/>
            <p>Selb&#x017F;t Anfangs mag hieru&#x0364;ber nichts ausdru&#x0364;cklich verabre-<lb/>
det worden &#x017F;eyn. Die Regel mußte einmal durch &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
gelten und galt &#x017F;o fort. Durch Lehre <note place="foot" n="57)"><hi rendition="#g">Walter</hi> &#x017F;agt (1. 132.): &#x201E;zu Oe&#x017F;treich lernte ich fingen und<lb/>
&#x017F;agen.&#x201C; Friedr. von Sonnenburg in der bekannten, fru&#x0364;her<lb/>
mißver&#x017F;tandenen Stelle: &#x201E;das <hi rendition="#g">rieth mir</hi> der von Nif und<lb/>
andere gute Mei&#x017F;ter nicht.&#x201C; (Nach <hi rendition="#g">Docen</hi> i&#x017F;t die&#x017F;er Nif ein<lb/>
bloßer Minne&#x017F;inger.)</note> und Nachahmung<lb/>
ent&#x017F;tand der Mei&#x017F;terge&#x017F;ang. Die, welche ihn ausu&#x0364;bten, waren<lb/>
deßhalb in keiner gewi&#x017F;&#x017F;en Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft, wohl aber in <hi rendition="#g">einer</hi><lb/>
Cla&#x017F;&#x017F;e; &#x017F;ie mo&#x0364;gen &#x017F;ich immer fu&#x0364;r ihres Gleichen anerkannt<lb/>
und etwa in einem &#x017F;olchen Verha&#x0364;ltniß ge&#x017F;tanden haben, wie es<lb/>
&#x017F;pa&#x0364;ter, z. B. zwi&#x017F;chen einem Nu&#x0364;rnberger und Straßburger<lb/>
Mei&#x017F;ter eintrat <note place="foot" n="58)"><hi rendition="#g">Gervelyn</hi> &#x017F;ingt <hi rendition="#aq">CCIV.</hi> vom My&#x017F;ner, wo er ihn des Ver-<lb/>
dachts &#x017F;chuldlos befinde, &#x017F;ey er &#x201E;&#x017F;ein gut Ge&#x017F;elle.&#x201C; 2. 226.<lb/>
&#x201E;min ge&#x017F;elle Spervogel.&#x201C; <hi rendition="#g">Walter</hi> 132. &#x201E;blasge&#x017F;elle&#x201C; (?)</note>. Schon das un&#x017F;tete Leben der er&#x017F;ten Mei-<lb/>
&#x017F;ter &#x017F;chließt ein fixirtes Zu&#x017F;ammenleben aus; was die ausge-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[75/0085] Aeußere Beweiſe. I. Geſellſchaft, (Schule?) Wir haben geſehen, daß ein naͤmliches Princip in der ganzen Zeit des Meiſterſangs herrſcht, ohne daß es ſeloͤſt durch eine ſchriftliche Urkunde aufgeſtellt worden. Halten ſich doch ſpaͤtere Tabulaturen, von welchen Kenntniß auf uns gelangt iſt, nicht eigentlich an den Grundſatz, als an eine bekannte Sache, vielmehr beſtimmen ſie allerhand auswendig hinzugetre- tene Regeln und Gebraͤuche. Es iſt recht merkwuͤrdig, daß in keinem der mir vorgekommenen, Schulkunſt uͤberſchriebenen Meiſterlieder ein Wort von Stoll oder Abgeſang und deren Unerlaͤßlichkeit ſtehet. Selbſt Anfangs mag hieruͤber nichts ausdruͤcklich verabre- det worden ſeyn. Die Regel mußte einmal durch ſich ſelbſt gelten und galt ſo fort. Durch Lehre 57) und Nachahmung entſtand der Meiſtergeſang. Die, welche ihn ausuͤbten, waren deßhalb in keiner gewiſſen Geſellſchaft, wohl aber in einer Claſſe; ſie moͤgen ſich immer fuͤr ihres Gleichen anerkannt und etwa in einem ſolchen Verhaͤltniß geſtanden haben, wie es ſpaͤter, z. B. zwiſchen einem Nuͤrnberger und Straßburger Meiſter eintrat 58). Schon das unſtete Leben der erſten Mei- ſter ſchließt ein fixirtes Zuſammenleben aus; was die ausge- 57) Walter ſagt (1. 132.): „zu Oeſtreich lernte ich fingen und ſagen.“ Friedr. von Sonnenburg in der bekannten, fruͤher mißverſtandenen Stelle: „das rieth mir der von Nif und andere gute Meiſter nicht.“ (Nach Docen iſt dieſer Nif ein bloßer Minneſinger.) 58) Gervelyn ſingt CCIV. vom Myſner, wo er ihn des Ver- dachts ſchuldlos befinde, ſey er „ſein gut Geſelle.“ 2. 226. „min geſelle Spervogel.“ Walter 132. „blasgeſelle“ (?)

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/85
Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/85>, abgerufen am 21.11.2024.