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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857.

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und es fehlte kein Nagel an der Wand und keine Ziegel auf dem Dach; dabei war es zart und schneeweiß, und roch süß wie Honig. Der Schneider packte es vorsichtig in sein Tuch und brachte es dem König, der aber konnte sich nicht genug verwundern, stellte es in seinem größten Saal auf und schenkte dem Schneider dafür ein großes steinernes Haus.

Der Schuster aber ließ nicht nach, gieng zum drittenmal zu dem König und sprach 'Herr König, dem Schneider ist zu Ohren gekommen daß auf dem Schloßhof kein Wasser springen will, da hat er sich vermessen es solle mitten im Hof mannshoch aufsteigen und hell sein wie Krystall.' Da ließ der König den Schneider herbei holen und sagte 'wenn nicht Morgen ein Strahl von Wasser in meinem Hof springt, wie du versprochen hast, so soll dich der Scharfrichter auf demselben Hof um einen Kopf kürzer machen.' Der arme Schneider besann sich nicht lange und eilte zum Thore hinaus, und weil es ihm diesmal ans Leben gehen sollte, so rollten ihm die Thränen über die Backen herab. Jndem er so voll Trauer dahin gieng, kam das Füllen herangesprungen, dem er einmal die Freiheit geschenkt hatte, und aus dem ein hübscher Brauner geworden war. 'Jetzt kommt die Stunde,' sprach er zu ihm, 'wo ich dir deine Gutthat vergelten kann. Jch weiß schon was dir fehlt, aber es soll dir bald geholfen werden, sitz nur auf, mein Rücken kann deiner zwei tragen.' Dem Schneider kam das Herz wieder, er sprang in einem Satz auf, und das Pferd rennte in vollem Lauf zur Stadt hinein und geradezu auf den Schloßhof. Da jagte es dreimal rund herum, schnell wie der Blitz und beim drittenmal stürzte es nieder. Jn dem Augenblick aber krachte es furchtbar: ein Stück Erde sprang in der Mitte des Hofs wie eine Kugel in die Luft und über das Schloß hinaus, und gleich dahinter her erhob sich ein Strahl von Wasser so hoch wie Mann und Pferd, und das Wasser war so rein wie Krystall, und die

und es fehlte kein Nagel an der Wand und keine Ziegel auf dem Dach; dabei war es zart und schneeweiß, und roch süß wie Honig. Der Schneider packte es vorsichtig in sein Tuch und brachte es dem König, der aber konnte sich nicht genug verwundern, stellte es in seinem größten Saal auf und schenkte dem Schneider dafür ein großes steinernes Haus.

Der Schuster aber ließ nicht nach, gieng zum drittenmal zu dem König und sprach ‘Herr König, dem Schneider ist zu Ohren gekommen daß auf dem Schloßhof kein Wasser springen will, da hat er sich vermessen es solle mitten im Hof mannshoch aufsteigen und hell sein wie Krystall.’ Da ließ der König den Schneider herbei holen und sagte ‘wenn nicht Morgen ein Strahl von Wasser in meinem Hof springt, wie du versprochen hast, so soll dich der Scharfrichter auf demselben Hof um einen Kopf kürzer machen.’ Der arme Schneider besann sich nicht lange und eilte zum Thore hinaus, und weil es ihm diesmal ans Leben gehen sollte, so rollten ihm die Thränen über die Backen herab. Jndem er so voll Trauer dahin gieng, kam das Füllen herangesprungen, dem er einmal die Freiheit geschenkt hatte, und aus dem ein hübscher Brauner geworden war. ‘Jetzt kommt die Stunde,’ sprach er zu ihm, ‘wo ich dir deine Gutthat vergelten kann. Jch weiß schon was dir fehlt, aber es soll dir bald geholfen werden, sitz nur auf, mein Rücken kann deiner zwei tragen.’ Dem Schneider kam das Herz wieder, er sprang in einem Satz auf, und das Pferd rennte in vollem Lauf zur Stadt hinein und geradezu auf den Schloßhof. Da jagte es dreimal rund herum, schnell wie der Blitz und beim drittenmal stürzte es nieder. Jn dem Augenblick aber krachte es furchtbar: ein Stück Erde sprang in der Mitte des Hofs wie eine Kugel in die Luft und über das Schloß hinaus, und gleich dahinter her erhob sich ein Strahl von Wasser so hoch wie Mann und Pferd, und das Wasser war so rein wie Krystall, und die

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[111/0123] und es fehlte kein Nagel an der Wand und keine Ziegel auf dem Dach; dabei war es zart und schneeweiß, und roch süß wie Honig. Der Schneider packte es vorsichtig in sein Tuch und brachte es dem König, der aber konnte sich nicht genug verwundern, stellte es in seinem größten Saal auf und schenkte dem Schneider dafür ein großes steinernes Haus. Der Schuster aber ließ nicht nach, gieng zum drittenmal zu dem König und sprach ‘Herr König, dem Schneider ist zu Ohren gekommen daß auf dem Schloßhof kein Wasser springen will, da hat er sich vermessen es solle mitten im Hof mannshoch aufsteigen und hell sein wie Krystall.’ Da ließ der König den Schneider herbei holen und sagte ‘wenn nicht Morgen ein Strahl von Wasser in meinem Hof springt, wie du versprochen hast, so soll dich der Scharfrichter auf demselben Hof um einen Kopf kürzer machen.’ Der arme Schneider besann sich nicht lange und eilte zum Thore hinaus, und weil es ihm diesmal ans Leben gehen sollte, so rollten ihm die Thränen über die Backen herab. Jndem er so voll Trauer dahin gieng, kam das Füllen herangesprungen, dem er einmal die Freiheit geschenkt hatte, und aus dem ein hübscher Brauner geworden war. ‘Jetzt kommt die Stunde,’ sprach er zu ihm, ‘wo ich dir deine Gutthat vergelten kann. Jch weiß schon was dir fehlt, aber es soll dir bald geholfen werden, sitz nur auf, mein Rücken kann deiner zwei tragen.’ Dem Schneider kam das Herz wieder, er sprang in einem Satz auf, und das Pferd rennte in vollem Lauf zur Stadt hinein und geradezu auf den Schloßhof. Da jagte es dreimal rund herum, schnell wie der Blitz und beim drittenmal stürzte es nieder. Jn dem Augenblick aber krachte es furchtbar: ein Stück Erde sprang in der Mitte des Hofs wie eine Kugel in die Luft und über das Schloß hinaus, und gleich dahinter her erhob sich ein Strahl von Wasser so hoch wie Mann und Pferd, und das Wasser war so rein wie Krystall, und die

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1857/123>, abgerufen am 27.04.2024.