Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857.198. Jungfrau Maleen. Es war einmal ein König, der hatte einen Sohn, der warb um die Tochter eines mächtigen Königs, die hieß Jungfrau Maleen und war wunderschön. Weil ihr Vater sie einem andern geben wollte, so ward sie ihm versagt. Da sich aber beide von Herzen liebten, so wollten sie nicht von einander lassen, und die Jungfrau Maleen sprach zu ihrem Vater 'ich kann und will keinen andern zu meinem Gemahl nehmen.' Da gerieth der Vater in Zorn und ließ einen finstern Thurn bauen, in den kein Strahl von Sonne oder Mond fiel. Als er fertig war, sprach er 'darin sollst du sieben Jahre lang sitzen, dann will ich kommen und sehen ob dein trotziger Sinn gebrochen ist.' Für die sieben Jahre ward Speise und Trank in den Thurn getragen, dann ward sie und ihre Kammerjungfer hinein geführt und eingemauert, und also von Himmel und Erde geschieden. Da saßen sie in der Finsternis, wußten nicht wann Tag oder Nacht anbrach. Der Königssohn gieng oft um den Thurn herum und rief ihren Namen, aber kein Laut drang von außen durch die dicken Mauern. Was konnten sie anders thun als jammern und klagen? Jndessen gieng die Zeit dahin und an der Abnahme von Speise und Trank merkten sie daß die sieben Jahre ihrem Ende sich näherten. Sie dachten der Augenblick ihrer Erlösung wäre gekommen, aber kein Hammerschlag ließ sich hören und kein Stein wollte aus der Mauer fallen: es schien als ob ihr Vater sie vergessen hätte. Als sie nur noch für kurze Zeit Nahrung hatten und einen jämmerlichen Tod voraus sahen, da sprach 198. Jungfrau Maleen. Es war einmal ein König, der hatte einen Sohn, der warb um die Tochter eines mächtigen Königs, die hieß Jungfrau Maleen und war wunderschön. Weil ihr Vater sie einem andern geben wollte, so ward sie ihm versagt. Da sich aber beide von Herzen liebten, so wollten sie nicht von einander lassen, und die Jungfrau Maleen sprach zu ihrem Vater ‘ich kann und will keinen andern zu meinem Gemahl nehmen.’ Da gerieth der Vater in Zorn und ließ einen finstern Thurn bauen, in den kein Strahl von Sonne oder Mond fiel. Als er fertig war, sprach er ‘darin sollst du sieben Jahre lang sitzen, dann will ich kommen und sehen ob dein trotziger Sinn gebrochen ist.’ Für die sieben Jahre ward Speise und Trank in den Thurn getragen, dann ward sie und ihre Kammerjungfer hinein geführt und eingemauert, und also von Himmel und Erde geschieden. Da saßen sie in der Finsternis, wußten nicht wann Tag oder Nacht anbrach. Der Königssohn gieng oft um den Thurn herum und rief ihren Namen, aber kein Laut drang von außen durch die dicken Mauern. Was konnten sie anders thun als jammern und klagen? Jndessen gieng die Zeit dahin und an der Abnahme von Speise und Trank merkten sie daß die sieben Jahre ihrem Ende sich näherten. Sie dachten der Augenblick ihrer Erlösung wäre gekommen, aber kein Hammerschlag ließ sich hören und kein Stein wollte aus der Mauer fallen: es schien als ob ihr Vater sie vergessen hätte. Als sie nur noch für kurze Zeit Nahrung hatten und einen jämmerlichen Tod voraus sahen, da sprach <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0462" n="450"/> <div n="1"> <head> <hi rendition="#b">198.<lb/> Jungfrau Maleen.</hi> </head><lb/> <p><hi rendition="#in">E</hi>s war einmal ein König, der hatte einen Sohn, der warb um die Tochter eines mächtigen Königs, die hieß Jungfrau Maleen und war wunderschön. Weil ihr Vater sie einem andern geben wollte, so ward sie ihm versagt. Da sich aber beide von Herzen liebten, so wollten sie nicht von einander lassen, und die Jungfrau Maleen sprach zu ihrem Vater ‘ich kann und will keinen andern zu meinem Gemahl nehmen.’ Da gerieth der Vater in Zorn und ließ einen finstern Thurn bauen, in den kein Strahl von Sonne oder Mond fiel. Als er fertig war, sprach er ‘darin sollst du sieben Jahre lang sitzen, dann will ich kommen und sehen ob dein trotziger Sinn gebrochen ist.’ Für die sieben Jahre ward Speise und Trank in den Thurn getragen, dann ward sie und ihre Kammerjungfer hinein geführt und eingemauert, und also von Himmel und Erde geschieden. Da saßen sie in der Finsternis, wußten nicht wann Tag oder Nacht anbrach. Der Königssohn gieng oft um den Thurn herum und rief ihren Namen, aber kein Laut drang von außen durch die dicken Mauern. Was konnten sie anders thun als jammern und klagen? Jndessen gieng die Zeit dahin und an der Abnahme von Speise und Trank merkten sie daß die sieben Jahre ihrem Ende sich näherten. Sie dachten der Augenblick ihrer Erlösung wäre gekommen, aber kein Hammerschlag ließ sich hören und kein Stein wollte aus der Mauer fallen: es schien als ob ihr Vater sie vergessen hätte. Als sie nur noch für kurze Zeit Nahrung hatten und einen jämmerlichen Tod voraus sahen, da sprach </p> </div> </body> </text> </TEI> [450/0462]
198.
Jungfrau Maleen.
Es war einmal ein König, der hatte einen Sohn, der warb um die Tochter eines mächtigen Königs, die hieß Jungfrau Maleen und war wunderschön. Weil ihr Vater sie einem andern geben wollte, so ward sie ihm versagt. Da sich aber beide von Herzen liebten, so wollten sie nicht von einander lassen, und die Jungfrau Maleen sprach zu ihrem Vater ‘ich kann und will keinen andern zu meinem Gemahl nehmen.’ Da gerieth der Vater in Zorn und ließ einen finstern Thurn bauen, in den kein Strahl von Sonne oder Mond fiel. Als er fertig war, sprach er ‘darin sollst du sieben Jahre lang sitzen, dann will ich kommen und sehen ob dein trotziger Sinn gebrochen ist.’ Für die sieben Jahre ward Speise und Trank in den Thurn getragen, dann ward sie und ihre Kammerjungfer hinein geführt und eingemauert, und also von Himmel und Erde geschieden. Da saßen sie in der Finsternis, wußten nicht wann Tag oder Nacht anbrach. Der Königssohn gieng oft um den Thurn herum und rief ihren Namen, aber kein Laut drang von außen durch die dicken Mauern. Was konnten sie anders thun als jammern und klagen? Jndessen gieng die Zeit dahin und an der Abnahme von Speise und Trank merkten sie daß die sieben Jahre ihrem Ende sich näherten. Sie dachten der Augenblick ihrer Erlösung wäre gekommen, aber kein Hammerschlag ließ sich hören und kein Stein wollte aus der Mauer fallen: es schien als ob ihr Vater sie vergessen hätte. Als sie nur noch für kurze Zeit Nahrung hatten und einen jämmerlichen Tod voraus sahen, da sprach
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax.
(2015-05-11T18:40:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Google Books (Harvard University): Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2015-05-11T18:40:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-06-08T16:12:00Z)
Weitere Informationen:Anmerkungen zur Transkription:
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |