Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite
183.
Der Riese und der Schneider.

Einem Schneider, der ein großer Prahler war, aber ein schlechter Zahler, kam es in den Sinn ein wenig auszugehen und sich in dem Wald umzuschauen. Sobald er nur konnte, verließ er seine Werkstatt,

wanderte seinen Weg
über Brücke und Steg,
bald da, bald dort,
immer fort und fort.

Als er nun draußen war, erblickte er in der blauen Ferne einen steilen Berg und dahinter einen himmelhohen Thurm, der aus einem wilden und finstern Wald hervorragte. 'Potz Blitz!' rief der Schneider, 'was ist das?' und weil ihn die Neugierde gewaltig stach, so gieng er frisch darauf los. Was sperrte er aber Maul und Augen auf, als er in die Nähe kam, denn der Thurm hatte Beine, sprang in einem Satz über den steilen Berg und stand als ein großmächtiger Riese vor dem Schneider. 'Was willst du hier, du winziges Fliegenbein,' rief der mit einer Stimme, als wenns von allen Seiten donnerte. Der Schneider wisperte 'ich will mich umschauen, ob ich mein Stückchen Brot in dem Wald verdienen kann.' 'Wenns um die Zeit ist,' sagte der Riese, 'so kannst du ja bei mir im Dienst eintreten.' 'Wenns sein muß, warum das nicht? was krieg ich aber für einen Lohn?' 'Was du für einen Lohn kriegst?' sagte der Riese, 'das sollst du hören. Jährlich dreihundert und fünf und sechzig Tage, und wenns ein Schaltjahr ist, noch einen

183.
Der Riese und der Schneider.

Einem Schneider, der ein großer Prahler war, aber ein schlechter Zahler, kam es in den Sinn ein wenig auszugehen und sich in dem Wald umzuschauen. Sobald er nur konnte, verließ er seine Werkstatt,

wanderte seinen Weg
über Brücke und Steg,
bald da, bald dort,
immer fort und fort.

Als er nun draußen war, erblickte er in der blauen Ferne einen steilen Berg und dahinter einen himmelhohen Thurm, der aus einem wilden und finstern Wald hervorragte. ‘Potz Blitz!’ rief der Schneider, ‘was ist das?’ und weil ihn die Neugierde gewaltig stach, so gieng er frisch darauf los. Was sperrte er aber Maul und Augen auf, als er in die Nähe kam, denn der Thurm hatte Beine, sprang in einem Satz über den steilen Berg und stand als ein großmächtiger Riese vor dem Schneider. ‘Was willst du hier, du winziges Fliegenbein,’ rief der mit einer Stimme, als wenns von allen Seiten donnerte. Der Schneider wisperte ‘ich will mich umschauen, ob ich mein Stückchen Brot in dem Wald verdienen kann.’ ‘Wenns um die Zeit ist,’ sagte der Riese, ‘so kannst du ja bei mir im Dienst eintreten.’ ‘Wenns sein muß, warum das nicht? was krieg ich aber für einen Lohn?’ ‘Was du für einen Lohn kriegst?’ sagte der Riese, ‘das sollst du hören. Jährlich dreihundert und fünf und sechzig Tage, und wenns ein Schaltjahr ist, noch einen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0399" n="387"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b">183.<lb/>
Der Riese und der Schneider.</hi> </head><lb/>
        <p><hi rendition="#in">E</hi>inem Schneider, der ein großer Prahler war, aber ein schlechter Zahler, kam es in den Sinn ein wenig auszugehen und sich in dem Wald umzuschauen. Sobald er nur konnte, verließ er seine Werkstatt,</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>wanderte seinen Weg</l><lb/>
          <l>über Brücke und Steg,</l><lb/>
          <l>bald da, bald dort,</l><lb/>
          <l>immer fort und fort.</l><lb/>
        </lg>
        <p>Als er nun draußen war, erblickte er in der blauen Ferne einen steilen Berg und dahinter einen himmelhohen Thurm, der aus einem wilden und finstern Wald hervorragte. &#x2018;Potz Blitz!&#x2019; rief der Schneider, &#x2018;was ist das?&#x2019; und weil ihn die Neugierde gewaltig stach, so gieng er frisch darauf los. Was sperrte er aber Maul und Augen auf, als er in die Nähe kam, denn der Thurm hatte Beine, sprang in einem Satz über den steilen Berg und stand als ein großmächtiger Riese vor dem Schneider. &#x2018;Was willst du hier, du winziges Fliegenbein,&#x2019; rief der mit einer Stimme, als wenns von allen Seiten donnerte. Der Schneider wisperte &#x2018;ich will mich umschauen, ob ich mein Stückchen Brot in dem Wald verdienen kann.&#x2019; &#x2018;Wenns um die Zeit ist,&#x2019; sagte der Riese, &#x2018;so kannst du ja bei mir im Dienst eintreten.&#x2019; &#x2018;Wenns sein muß, warum das nicht? was krieg ich aber für einen Lohn?&#x2019; &#x2018;Was du für einen Lohn kriegst?&#x2019; sagte der Riese, &#x2018;das sollst du hören. Jährlich dreihundert und fünf und sechzig Tage, und wenns ein Schaltjahr ist, noch einen
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[387/0399] 183. Der Riese und der Schneider. Einem Schneider, der ein großer Prahler war, aber ein schlechter Zahler, kam es in den Sinn ein wenig auszugehen und sich in dem Wald umzuschauen. Sobald er nur konnte, verließ er seine Werkstatt, wanderte seinen Weg über Brücke und Steg, bald da, bald dort, immer fort und fort. Als er nun draußen war, erblickte er in der blauen Ferne einen steilen Berg und dahinter einen himmelhohen Thurm, der aus einem wilden und finstern Wald hervorragte. ‘Potz Blitz!’ rief der Schneider, ‘was ist das?’ und weil ihn die Neugierde gewaltig stach, so gieng er frisch darauf los. Was sperrte er aber Maul und Augen auf, als er in die Nähe kam, denn der Thurm hatte Beine, sprang in einem Satz über den steilen Berg und stand als ein großmächtiger Riese vor dem Schneider. ‘Was willst du hier, du winziges Fliegenbein,’ rief der mit einer Stimme, als wenns von allen Seiten donnerte. Der Schneider wisperte ‘ich will mich umschauen, ob ich mein Stückchen Brot in dem Wald verdienen kann.’ ‘Wenns um die Zeit ist,’ sagte der Riese, ‘so kannst du ja bei mir im Dienst eintreten.’ ‘Wenns sein muß, warum das nicht? was krieg ich aber für einen Lohn?’ ‘Was du für einen Lohn kriegst?’ sagte der Riese, ‘das sollst du hören. Jährlich dreihundert und fünf und sechzig Tage, und wenns ein Schaltjahr ist, noch einen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Google Books (Harvard University): Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-05-11T18:40:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-08T16:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1857/399
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1857/399>, abgerufen am 18.12.2024.