Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1850.6. Die drei grünen Zweige. Es war einmal ein Einsiedler, der lebte in einem Wald an dem Fuße eines Berges und brachte seine Zeit in Gebet und guten Werken zu, und jeden Abend trug er noch zur Ehre Gottes ein paar Eimer Wasser den Berg hinauf. Manches Thier wurde damit getränkt und manche Pflanze damit erquickt, denn auf den Anhöhen weht beständig ein harter Wind, der die Luft und die Erde austrocknet, und die wilden Vögel, die vor den Menschen scheuen, kreißen dann hoch und suchen mit ihren scharfen Augen nach einem Trunk. Und weil der Einsiedler so fromm war, so gieng ein Engel Gottes, seinen Augen sichtbar, mit ihm hinauf, zählte seine Schritte und brachte ihm, wenn die Arbeit vollendet war, sein Essen, so wie jener Prophet auf Gottes Geheiß von den Raben gespeiset ward. Als der Einsiedler in seiner Frömmigkeit schon zu einem hohen Alter gekommen war, da trug es sich zu, daß er einmal von weitem sah wie man einen armen Sünder zum Galgen führte. Er sprach so vor sich hin 'jetzt widerfährt diesem sein Recht.' Abends, als er das Wasser den Berg hinauftrug, erschien der Engel nicht, der ihn sonst begleitete und brachte ihm auch nicht seine Speise. Da erschrack er, prüfte sein Herz und bedachte 6. Die drei grünen Zweige. Es war einmal ein Einsiedler, der lebte in einem Wald an dem Fuße eines Berges und brachte seine Zeit in Gebet und guten Werken zu, und jeden Abend trug er noch zur Ehre Gottes ein paar Eimer Wasser den Berg hinauf. Manches Thier wurde damit getränkt und manche Pflanze damit erquickt, denn auf den Anhöhen weht beständig ein harter Wind, der die Luft und die Erde austrocknet, und die wilden Vögel, die vor den Menschen scheuen, kreißen dann hoch und suchen mit ihren scharfen Augen nach einem Trunk. Und weil der Einsiedler so fromm war, so gieng ein Engel Gottes, seinen Augen sichtbar, mit ihm hinauf, zählte seine Schritte und brachte ihm, wenn die Arbeit vollendet war, sein Essen, so wie jener Prophet auf Gottes Geheiß von den Raben gespeiset ward. Als der Einsiedler in seiner Frömmigkeit schon zu einem hohen Alter gekommen war, da trug es sich zu, daß er einmal von weitem sah wie man einen armen Sünder zum Galgen führte. Er sprach so vor sich hin ‘jetzt widerfährt diesem sein Recht.’ Abends, als er das Wasser den Berg hinauftrug, erschien der Engel nicht, der ihn sonst begleitete und brachte ihm auch nicht seine Speise. Da erschrack er, prüfte sein Herz und bedachte <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0565" n="553"/> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b">6.<lb/> Die drei grünen Zweige.</hi> </head><lb/> <p><hi rendition="#in">E</hi>s war einmal ein Einsiedler, der lebte in einem Wald an dem Fuße eines Berges und brachte seine Zeit in Gebet und guten Werken zu, und jeden Abend trug er noch zur Ehre Gottes ein paar Eimer Wasser den Berg hinauf. Manches Thier wurde damit getränkt und manche Pflanze damit erquickt, denn auf den Anhöhen weht beständig ein harter Wind, der die Luft und die Erde austrocknet, und die wilden Vögel, die vor den Menschen scheuen, kreißen dann hoch und suchen mit ihren scharfen Augen nach einem Trunk. Und weil der Einsiedler so fromm war, so gieng ein Engel Gottes, seinen Augen sichtbar, mit ihm hinauf, zählte seine Schritte und brachte ihm, wenn die Arbeit vollendet war, sein Essen, so wie jener Prophet auf Gottes Geheiß von den Raben gespeiset ward. Als der Einsiedler in seiner Frömmigkeit schon zu einem hohen Alter gekommen war, da trug es sich zu, daß er einmal von weitem sah wie man einen armen Sünder zum Galgen führte. Er sprach so vor sich hin ‘jetzt widerfährt diesem sein Recht.’ Abends, als er das Wasser den Berg hinauftrug, erschien der Engel nicht, der ihn sonst begleitete und brachte ihm auch nicht seine Speise. Da erschrack er, prüfte sein Herz und bedachte </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [553/0565]
6.
Die drei grünen Zweige.
Es war einmal ein Einsiedler, der lebte in einem Wald an dem Fuße eines Berges und brachte seine Zeit in Gebet und guten Werken zu, und jeden Abend trug er noch zur Ehre Gottes ein paar Eimer Wasser den Berg hinauf. Manches Thier wurde damit getränkt und manche Pflanze damit erquickt, denn auf den Anhöhen weht beständig ein harter Wind, der die Luft und die Erde austrocknet, und die wilden Vögel, die vor den Menschen scheuen, kreißen dann hoch und suchen mit ihren scharfen Augen nach einem Trunk. Und weil der Einsiedler so fromm war, so gieng ein Engel Gottes, seinen Augen sichtbar, mit ihm hinauf, zählte seine Schritte und brachte ihm, wenn die Arbeit vollendet war, sein Essen, so wie jener Prophet auf Gottes Geheiß von den Raben gespeiset ward. Als der Einsiedler in seiner Frömmigkeit schon zu einem hohen Alter gekommen war, da trug es sich zu, daß er einmal von weitem sah wie man einen armen Sünder zum Galgen führte. Er sprach so vor sich hin ‘jetzt widerfährt diesem sein Recht.’ Abends, als er das Wasser den Berg hinauftrug, erschien der Engel nicht, der ihn sonst begleitete und brachte ihm auch nicht seine Speise. Da erschrack er, prüfte sein Herz und bedachte
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax.
(2015-05-11T18:40:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2015-05-11T18:40:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-06-03T16:12:00Z)
Weitere Informationen:Anmerkungen zur Transkription:
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |