Es war einmal ein König, der hatte einen Sohn, der warb um die Tochter eines mächtigen Königs, die hieß Jungfrau Maleen und war wunderschön. Sie ward ihm versagt, weil ihr Vater sie einem andern geben wollte. Da sich aber beide von Herzen liebten, so wollten sie nicht von einander lassen, und die Jungfrau Maleen sprach zu ihrem Vater 'ich kann und will keinen andern zu meinem Gemahl nehmen.' Da gerieth der Vater in Zorn und ließ einen finstern Thurn bauen, in den kein Strahl von Sonne oder Mond fiel. Und als er fertig war, sprach er 'darin sollst du sieben Jahre lang sitzen, dann will ich kommen und sehen ob dein trotziger Sinn gebrochen ist'. Für die sieben Jahre ward Speise und Trank in den Thurn getragen, dann ward sie und ihre Kammerjungfer hinein geführt und eingemauert, und also von Himmel und Erde geschieden. Da saßen sie in der Finsternis, wußten nicht wann Tag oder Nacht anbrach. Der Königssohn gieng oft um den Thurn herum und rief ihren Namen, aber kein Laut drang von außen durch die dicken Mauern. Was konnten sie anders thun als jammern und klagen? Jndessen gieng die Zeit dahin und an der Abnahme von Speise und Trank merkten sie daß die sieben Jahre
198. Jungfrau Maleen.
Es war einmal ein König, der hatte einen Sohn, der warb um die Tochter eines mächtigen Königs, die hieß Jungfrau Maleen und war wunderschön. Sie ward ihm versagt, weil ihr Vater sie einem andern geben wollte. Da sich aber beide von Herzen liebten, so wollten sie nicht von einander lassen, und die Jungfrau Maleen sprach zu ihrem Vater ‘ich kann und will keinen andern zu meinem Gemahl nehmen.’ Da gerieth der Vater in Zorn und ließ einen finstern Thurn bauen, in den kein Strahl von Sonne oder Mond fiel. Und als er fertig war, sprach er ‘darin sollst du sieben Jahre lang sitzen, dann will ich kommen und sehen ob dein trotziger Sinn gebrochen ist’. Für die sieben Jahre ward Speise und Trank in den Thurn getragen, dann ward sie und ihre Kammerjungfer hinein geführt und eingemauert, und also von Himmel und Erde geschieden. Da saßen sie in der Finsternis, wußten nicht wann Tag oder Nacht anbrach. Der Königssohn gieng oft um den Thurn herum und rief ihren Namen, aber kein Laut drang von außen durch die dicken Mauern. Was konnten sie anders thun als jammern und klagen? Jndessen gieng die Zeit dahin und an der Abnahme von Speise und Trank merkten sie daß die sieben Jahre
<TEI><text><body><pbn="527"facs="#f0539"/><divn="1"><head><hirendition="#b">198.<lb/>
Jungfrau Maleen.</hi></head><lb/><p><hirendition="#in">E</hi>s war einmal ein König, der hatte einen Sohn, der warb um die Tochter eines mächtigen Königs, die hieß Jungfrau Maleen und war wunderschön. Sie ward ihm versagt, weil ihr Vater sie einem andern geben wollte. Da sich aber beide von Herzen liebten, so wollten sie nicht von einander lassen, und die Jungfrau Maleen sprach zu ihrem Vater ‘ich kann und will keinen andern zu meinem Gemahl nehmen.’ Da gerieth der Vater in Zorn und ließ einen finstern Thurn bauen, in den kein Strahl von Sonne oder Mond fiel. Und als er fertig war, sprach er ‘darin sollst du sieben Jahre lang sitzen, dann will ich kommen und sehen ob dein trotziger Sinn gebrochen ist’. Für die sieben Jahre ward Speise und Trank in den Thurn getragen, dann ward sie und ihre Kammerjungfer hinein geführt und eingemauert, und also von Himmel und Erde geschieden. Da saßen sie in der Finsternis, wußten nicht wann Tag oder Nacht anbrach. Der Königssohn gieng oft um den Thurn herum und rief ihren Namen, aber kein Laut drang von außen durch die dicken Mauern. Was konnten sie anders thun als jammern und klagen? Jndessen gieng die Zeit dahin und an der Abnahme von Speise und Trank merkten sie daß die sieben Jahre
</p></div></body></text></TEI>
[527/0539]
198.
Jungfrau Maleen.
Es war einmal ein König, der hatte einen Sohn, der warb um die Tochter eines mächtigen Königs, die hieß Jungfrau Maleen und war wunderschön. Sie ward ihm versagt, weil ihr Vater sie einem andern geben wollte. Da sich aber beide von Herzen liebten, so wollten sie nicht von einander lassen, und die Jungfrau Maleen sprach zu ihrem Vater ‘ich kann und will keinen andern zu meinem Gemahl nehmen.’ Da gerieth der Vater in Zorn und ließ einen finstern Thurn bauen, in den kein Strahl von Sonne oder Mond fiel. Und als er fertig war, sprach er ‘darin sollst du sieben Jahre lang sitzen, dann will ich kommen und sehen ob dein trotziger Sinn gebrochen ist’. Für die sieben Jahre ward Speise und Trank in den Thurn getragen, dann ward sie und ihre Kammerjungfer hinein geführt und eingemauert, und also von Himmel und Erde geschieden. Da saßen sie in der Finsternis, wußten nicht wann Tag oder Nacht anbrach. Der Königssohn gieng oft um den Thurn herum und rief ihren Namen, aber kein Laut drang von außen durch die dicken Mauern. Was konnten sie anders thun als jammern und klagen? Jndessen gieng die Zeit dahin und an der Abnahme von Speise und Trank merkten sie daß die sieben Jahre
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax.
(2015-05-11T18:40:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1850, S. 527. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1850/539>, abgerufen am 03.03.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.