Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 6. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1850.87. Der Arme und der Reiche. Vor alten Zeiten, als der liebe Gott noch selber auf Erden unter den Menschen wandelte, trug es sich zu, daß er eines Abends müde war und ihn die Nacht überfiel, bevor er zu einer Herberge kommen konnte. Nun standen auf dem Weg vor ihm zwei Häuser einander gegenüber, das eine groß und schön, das andere klein und ärmlich anzusehen, und gehörte das große einem Reichen, das kleine einem armen Manne. Da dachte unser Herr Gott 'dem Reichen werde ich nicht beschwerlich fallen: bei ihm will ich übernachten.' Der Reiche, als er an seine Thüre klopfen hörte, machte das Fenster auf und fragte den Fremdling was er suche? Der Herr antwortete 'ich bitte um ein Nachtlager.' Der Reiche guckte den Wandersmann von Haupt bis zu den Füßen an, und weil der liebe Gott schlichte Kleider trug und nicht aussah wie einer, der viel Geld in der Tasche hat, schüttelte er mit dem Kopf und sprach 'ich kann euch nicht aufnehmen, meine Kammern liegen voll Kräuter und Samen, und sollte ich einen jeden beherbergen, der an meine Thüre klopft, so könnte ich selber den Bettelstab in die Hand nehmen. Sucht anderswo ein Auskommen.' Schlug damit sein Fenster zu und ließ den lieben 87. Der Arme und der Reiche. Vor alten Zeiten, als der liebe Gott noch selber auf Erden unter den Menschen wandelte, trug es sich zu, daß er eines Abends müde war und ihn die Nacht überfiel, bevor er zu einer Herberge kommen konnte. Nun standen auf dem Weg vor ihm zwei Häuser einander gegenüber, das eine groß und schön, das andere klein und ärmlich anzusehen, und gehörte das große einem Reichen, das kleine einem armen Manne. Da dachte unser Herr Gott ‘dem Reichen werde ich nicht beschwerlich fallen: bei ihm will ich übernachten.’ Der Reiche, als er an seine Thüre klopfen hörte, machte das Fenster auf und fragte den Fremdling was er suche? Der Herr antwortete ‘ich bitte um ein Nachtlager.’ Der Reiche guckte den Wandersmann von Haupt bis zu den Füßen an, und weil der liebe Gott schlichte Kleider trug und nicht aussah wie einer, der viel Geld in der Tasche hat, schüttelte er mit dem Kopf und sprach ‘ich kann euch nicht aufnehmen, meine Kammern liegen voll Kräuter und Samen, und sollte ich einen jeden beherbergen, der an meine Thüre klopft, so könnte ich selber den Bettelstab in die Hand nehmen. Sucht anderswo ein Auskommen.’ Schlug damit sein Fenster zu und ließ den lieben <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0013" n="[1]"/> <div n="1"> <head> <hi rendition="#b">87.<lb/> Der Arme und der Reiche.</hi> </head><lb/> <p><hi rendition="#in">V</hi>or alten Zeiten, als der liebe Gott noch selber auf Erden unter den Menschen wandelte, trug es sich zu, daß er eines Abends müde war und ihn die Nacht überfiel, bevor er zu einer Herberge kommen konnte. Nun standen auf dem Weg vor ihm zwei Häuser einander gegenüber, das eine groß und schön, das andere klein und ärmlich anzusehen, und gehörte das große einem Reichen, das kleine einem armen Manne. Da dachte unser Herr Gott ‘dem Reichen werde ich nicht beschwerlich fallen: bei ihm will ich übernachten.’ Der Reiche, als er an seine Thüre klopfen hörte, machte das Fenster auf und fragte den Fremdling was er suche? Der Herr antwortete ‘ich bitte um ein Nachtlager.’ Der Reiche guckte den Wandersmann von Haupt bis zu den Füßen an, und weil der liebe Gott schlichte Kleider trug und nicht aussah wie einer, der viel Geld in der Tasche hat, schüttelte er mit dem Kopf und sprach ‘ich kann euch nicht aufnehmen, meine Kammern liegen voll Kräuter und Samen, und sollte ich einen jeden beherbergen, der an meine Thüre klopft, so könnte ich selber den Bettelstab in die Hand nehmen. Sucht anderswo ein Auskommen.’ Schlug damit sein Fenster zu und ließ den lieben </p> </div> </body> </text> </TEI> [[1]/0013]
87.
Der Arme und der Reiche.
Vor alten Zeiten, als der liebe Gott noch selber auf Erden unter den Menschen wandelte, trug es sich zu, daß er eines Abends müde war und ihn die Nacht überfiel, bevor er zu einer Herberge kommen konnte. Nun standen auf dem Weg vor ihm zwei Häuser einander gegenüber, das eine groß und schön, das andere klein und ärmlich anzusehen, und gehörte das große einem Reichen, das kleine einem armen Manne. Da dachte unser Herr Gott ‘dem Reichen werde ich nicht beschwerlich fallen: bei ihm will ich übernachten.’ Der Reiche, als er an seine Thüre klopfen hörte, machte das Fenster auf und fragte den Fremdling was er suche? Der Herr antwortete ‘ich bitte um ein Nachtlager.’ Der Reiche guckte den Wandersmann von Haupt bis zu den Füßen an, und weil der liebe Gott schlichte Kleider trug und nicht aussah wie einer, der viel Geld in der Tasche hat, schüttelte er mit dem Kopf und sprach ‘ich kann euch nicht aufnehmen, meine Kammern liegen voll Kräuter und Samen, und sollte ich einen jeden beherbergen, der an meine Thüre klopft, so könnte ich selber den Bettelstab in die Hand nehmen. Sucht anderswo ein Auskommen.’ Schlug damit sein Fenster zu und ließ den lieben
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