Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1843.

Bild:
<< vorherige Seite
6.
Die drei grünen Zweige.

Es war einmal ein Einsiedler, der lebte in einem Walde, an dem Fuße eines Berges, und brachte seine Zeit in Gebet und guten Werken zu, und jeden Abend trug er noch zur Ehre Gottes ein paar Eimer Wasser den Berg hinauf. Manches Thier wurde damit getränkt, und manche Pflanze damit erquickt, denn auf den Anhöhen weht beständig ein harter Wind, der die Luft und die Erde austrocknet, und die wilden Vögel, die vor den Menschen scheuen, kreißen dann hoch, und suchen mit ihren scharfen Augen nach einem Trunk. Und weil der Einsiedler so fromm war, so gieng ein Engel Gottes, seinen Augen sichtbar, mit ihm hinauf, zählte seine Schritte, und brachte ihm, wenn die Arbeit vollendet war, sein Essen, so wie jener Prophet auf Gottes Geheiß von den Raben gespeiset wurde. Als der Einsiedler in seiner Frömmigkeit schon zu einem hohen Alter gekommen war, da trug es sich zu, daß er einmal von weitem sah wie ein armer Sünder zum Galgen geführt wurde, und er zu sich selber sprach 'jetzt widerfährt diesem sein Recht.' Abends, als er das Wasser den Berg hinauftrug, erschien der Engel nicht, der ihn sonst begleitete, und brachte ihm auch nicht seine Speise, Da erschrak er, prüfte sein Herz, und bedachte womit er wohl

6.
Die drei grünen Zweige.

Es war einmal ein Einsiedler, der lebte in einem Walde, an dem Fuße eines Berges, und brachte seine Zeit in Gebet und guten Werken zu, und jeden Abend trug er noch zur Ehre Gottes ein paar Eimer Wasser den Berg hinauf. Manches Thier wurde damit getränkt, und manche Pflanze damit erquickt, denn auf den Anhöhen weht beständig ein harter Wind, der die Luft und die Erde austrocknet, und die wilden Vögel, die vor den Menschen scheuen, kreißen dann hoch, und suchen mit ihren scharfen Augen nach einem Trunk. Und weil der Einsiedler so fromm war, so gieng ein Engel Gottes, seinen Augen sichtbar, mit ihm hinauf, zählte seine Schritte, und brachte ihm, wenn die Arbeit vollendet war, sein Essen, so wie jener Prophet auf Gottes Geheiß von den Raben gespeiset wurde. Als der Einsiedler in seiner Frömmigkeit schon zu einem hohen Alter gekommen war, da trug es sich zu, daß er einmal von weitem sah wie ein armer Sünder zum Galgen geführt wurde, und er zu sich selber sprach ‘jetzt widerfährt diesem sein Recht.’ Abends, als er das Wasser den Berg hinauftrug, erschien der Engel nicht, der ihn sonst begleitete, und brachte ihm auch nicht seine Speise, Da erschrak er, prüfte sein Herz, und bedachte womit er wohl

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0525" n="515"/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">6.<lb/>
Die drei grünen Zweige.</hi> </head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">E</hi>s war einmal ein Einsiedler, der lebte in einem Walde, an dem Fuße eines Berges, und brachte seine Zeit in Gebet und guten Werken zu, und jeden Abend trug er noch zur Ehre Gottes ein paar Eimer Wasser den Berg hinauf. Manches Thier wurde damit getränkt, und manche Pflanze damit erquickt, denn auf den Anhöhen weht beständig ein harter Wind, der die Luft und die Erde austrocknet, und die wilden Vögel, die vor den Menschen scheuen, kreißen dann hoch, und suchen mit ihren scharfen Augen nach einem Trunk. Und weil der Einsiedler so fromm war, so gieng ein Engel Gottes, seinen Augen sichtbar, mit ihm hinauf, zählte seine Schritte, und brachte ihm, wenn die Arbeit vollendet war, sein Essen, so wie jener Prophet auf Gottes Geheiß von den Raben gespeiset wurde. Als der Einsiedler in seiner Frömmigkeit schon zu einem hohen Alter gekommen war, da trug es sich zu, daß er einmal von weitem sah wie ein armer Sünder zum Galgen geführt wurde, und er zu sich selber sprach &#x2018;jetzt widerfährt diesem sein Recht.&#x2019; Abends, als er das Wasser den Berg hinauftrug, erschien der Engel nicht, der ihn sonst begleitete, und brachte ihm auch nicht seine Speise, Da erschrak er, prüfte sein Herz, und bedachte womit er wohl
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[515/0525] 6. Die drei grünen Zweige. Es war einmal ein Einsiedler, der lebte in einem Walde, an dem Fuße eines Berges, und brachte seine Zeit in Gebet und guten Werken zu, und jeden Abend trug er noch zur Ehre Gottes ein paar Eimer Wasser den Berg hinauf. Manches Thier wurde damit getränkt, und manche Pflanze damit erquickt, denn auf den Anhöhen weht beständig ein harter Wind, der die Luft und die Erde austrocknet, und die wilden Vögel, die vor den Menschen scheuen, kreißen dann hoch, und suchen mit ihren scharfen Augen nach einem Trunk. Und weil der Einsiedler so fromm war, so gieng ein Engel Gottes, seinen Augen sichtbar, mit ihm hinauf, zählte seine Schritte, und brachte ihm, wenn die Arbeit vollendet war, sein Essen, so wie jener Prophet auf Gottes Geheiß von den Raben gespeiset wurde. Als der Einsiedler in seiner Frömmigkeit schon zu einem hohen Alter gekommen war, da trug es sich zu, daß er einmal von weitem sah wie ein armer Sünder zum Galgen geführt wurde, und er zu sich selber sprach ‘jetzt widerfährt diesem sein Recht.’ Abends, als er das Wasser den Berg hinauftrug, erschien der Engel nicht, der ihn sonst begleitete, und brachte ihm auch nicht seine Speise, Da erschrak er, prüfte sein Herz, und bedachte womit er wohl

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Universitäts- und Landesbibliothek Düsseldorf: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2017-11-08T15:10:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-01T16:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1843
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1843/525
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1843, S. 515. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1843/525>, abgerufen am 18.11.2024.