Meister Pfriem war ein kleiner hagerer aber lebhafter Mann, der keinen Augenblick Ruhe hatte. Sein Gesicht, aus dem nur die aufgestülpte Nase vorragte, war pockennarbig und leichenblaß, sein Haar grau und struppig, seine Augen klein, aber sie blitzten unaufhörlich rechts und links hin. Er bemerkte alles, tadelte alles, wußte alles besser, und hatte in allem Recht. Gieng er auf der Straße, so ruderte er heftig mit beiden Armen, und einmal schlug er einem Mädchen, das Wasser trug, den Eimer so hoch in die Luft, daß er selbst davon begossen ward. 'Schafskopf,' rief er ihr zu indem er sich schüttelte, 'konntest du nicht sehen daß ich hinter dir herkam?' Seines Handwerks war er ein Schuster, und wenn er arbeitete, so fuhr er mit Draht so gewaltig aus, daß er jedem, der sich nicht weit genug in der Ferne hielt, die Faust in den Leib stieß. Kein Geselle blieb länger als einen Monat bei ihm, denn er hatte an der besten Arbeit immer etwas auszusetzen. Bald waren die Stiche nicht gleich, bald war ein Schuh länger, bald ein Absatz höher als der andere, bald war das Leder nicht hinlänglich geschlagen. 'Warte' sagte er zu dem Lehrjungen, 'ich will dir schon zeigen wie man die Haut weich schlägt,' holte den Riemen, und gab ihm
178. Meister Pfriem.
Meister Pfriem war ein kleiner hagerer aber lebhafter Mann, der keinen Augenblick Ruhe hatte. Sein Gesicht, aus dem nur die aufgestülpte Nase vorragte, war pockennarbig und leichenblaß, sein Haar grau und struppig, seine Augen klein, aber sie blitzten unaufhörlich rechts und links hin. Er bemerkte alles, tadelte alles, wußte alles besser, und hatte in allem Recht. Gieng er auf der Straße, so ruderte er heftig mit beiden Armen, und einmal schlug er einem Mädchen, das Wasser trug, den Eimer so hoch in die Luft, daß er selbst davon begossen ward. ‘Schafskopf,’ rief er ihr zu indem er sich schüttelte, ‘konntest du nicht sehen daß ich hinter dir herkam?’ Seines Handwerks war er ein Schuster, und wenn er arbeitete, so fuhr er mit Draht so gewaltig aus, daß er jedem, der sich nicht weit genug in der Ferne hielt, die Faust in den Leib stieß. Kein Geselle blieb länger als einen Monat bei ihm, denn er hatte an der besten Arbeit immer etwas auszusetzen. Bald waren die Stiche nicht gleich, bald war ein Schuh länger, bald ein Absatz höher als der andere, bald war das Leder nicht hinlänglich geschlagen. ‘Warte’ sagte er zu dem Lehrjungen, ‘ich will dir schon zeigen wie man die Haut weich schlägt,’ holte den Riemen, und gab ihm
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178.
Meister Pfriem.
Meister Pfriem war ein kleiner hagerer aber lebhafter Mann, der keinen Augenblick Ruhe hatte. Sein Gesicht, aus dem nur die aufgestülpte Nase vorragte, war pockennarbig und leichenblaß, sein Haar grau und struppig, seine Augen klein, aber sie blitzten unaufhörlich rechts und links hin. Er bemerkte alles, tadelte alles, wußte alles besser, und hatte in allem Recht. Gieng er auf der Straße, so ruderte er heftig mit beiden Armen, und einmal schlug er einem Mädchen, das Wasser trug, den Eimer so hoch in die Luft, daß er selbst davon begossen ward. ‘Schafskopf,’ rief er ihr zu indem er sich schüttelte, ‘konntest du nicht sehen daß ich hinter dir herkam?’ Seines Handwerks war er ein Schuster, und wenn er arbeitete, so fuhr er mit Draht so gewaltig aus, daß er jedem, der sich nicht weit genug in der Ferne hielt, die Faust in den Leib stieß. Kein Geselle blieb länger als einen Monat bei ihm, denn er hatte an der besten Arbeit immer etwas auszusetzen. Bald waren die Stiche nicht gleich, bald war ein Schuh länger, bald ein Absatz höher als der andere, bald war das Leder nicht hinlänglich geschlagen. ‘Warte’ sagte er zu dem Lehrjungen, ‘ich will dir schon zeigen wie man die Haut weich schlägt,’ holte den Riemen, und gab ihm
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1843, S. 403. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1843/413>, abgerufen am 22.02.2025.
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