In den alten Zeiten da hatte jeder Klang noch Sinn und Bedeutung. Wenn der Hammer des Schmieds ertönte, so rief er 'smiet mi to! smiet mi to!' Wenn der Hobel des Tischlers schnarrte, so sprach er 'dor häst! dor, dor häst!' Fieng das Räderwerk der Mühle an zu klappern, so sprach es 'help, Herr Gott! help, Herr Gott!' und war der Müller ein Betrüger, und ließ die Mühle an, so sprach sie hochdeutsch und fragte erst langsam 'wer ist da? wer ist da?' dann antwortete sie schnell 'der Müller! der Müller!' und endlich ganz geschwind 'stiehlt tapfer, stiehlt tapfer, vom Achtel drei Sechter.'
Zu dieser Zeit hatten auch die Vögel ihre eigene Sprache, die jedermann verstand, jetzt lautet es nur wie ein Zwitschern, Kreischen und Pfeifen und bei einigen wie Musik ohne Worte. Es kam aber den Vögeln in den Sinn; sie wollten nicht länger ohne Herrn sein, und einen unter sich zu ihrem König wählen. Nur einer von ihnen, der Kibitz, war dagegen: frei hatte er gelebt und frei wollte er sterben, und angstvoll hin und her fliegend rief er 'wo bliew ick? wo bliew ick?' Er zog sich zurück in einsame und unbesuchte Sümpfe, und zeigte sich nicht wieder unter Seinesgleichen.
171. Der Zaunkönig.
In den alten Zeiten da hatte jeder Klang noch Sinn und Bedeutung. Wenn der Hammer des Schmieds ertönte, so rief er ‘smiet mi to! smiet mi to!’ Wenn der Hobel des Tischlers schnarrte, so sprach er ‘dor häst! dor, dor häst!’ Fieng das Räderwerk der Mühle an zu klappern, so sprach es ‘help, Herr Gott! help, Herr Gott!’ und war der Müller ein Betrüger, und ließ die Mühle an, so sprach sie hochdeutsch und fragte erst langsam ‘wer ist da? wer ist da?’ dann antwortete sie schnell ‘der Müller! der Müller!’ und endlich ganz geschwind ‘stiehlt tapfer, stiehlt tapfer, vom Achtel drei Sechter.’
Zu dieser Zeit hatten auch die Vögel ihre eigene Sprache, die jedermann verstand, jetzt lautet es nur wie ein Zwitschern, Kreischen und Pfeifen und bei einigen wie Musik ohne Worte. Es kam aber den Vögeln in den Sinn; sie wollten nicht länger ohne Herrn sein, und einen unter sich zu ihrem König wählen. Nur einer von ihnen, der Kibitz, war dagegen: frei hatte er gelebt und frei wollte er sterben, und angstvoll hin und her fliegend rief er ‘wo bliew ick? wo bliew ick?’ Er zog sich zurück in einsame und unbesuchte Sümpfe, und zeigte sich nicht wieder unter Seinesgleichen.
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171.
Der Zaunkönig.
In den alten Zeiten da hatte jeder Klang noch Sinn und Bedeutung. Wenn der Hammer des Schmieds ertönte, so rief er ‘smiet mi to! smiet mi to!’ Wenn der Hobel des Tischlers schnarrte, so sprach er ‘dor häst! dor, dor häst!’ Fieng das Räderwerk der Mühle an zu klappern, so sprach es ‘help, Herr Gott! help, Herr Gott!’ und war der Müller ein Betrüger, und ließ die Mühle an, so sprach sie hochdeutsch und fragte erst langsam ‘wer ist da? wer ist da?’ dann antwortete sie schnell ‘der Müller! der Müller!’ und endlich ganz geschwind ‘stiehlt tapfer, stiehlt tapfer, vom Achtel drei Sechter.’
Zu dieser Zeit hatten auch die Vögel ihre eigene Sprache, die jedermann verstand, jetzt lautet es nur wie ein Zwitschern, Kreischen und Pfeifen und bei einigen wie Musik ohne Worte. Es kam aber den Vögeln in den Sinn; sie wollten nicht länger ohne Herrn sein, und einen unter sich zu ihrem König wählen. Nur einer von ihnen, der Kibitz, war dagegen: frei hatte er gelebt und frei wollte er sterben, und angstvoll hin und her fliegend rief er ‘wo bliew ick? wo bliew ick?’ Er zog sich zurück in einsame und unbesuchte Sümpfe, und zeigte sich nicht wieder unter Seinesgleichen.
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 5. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1843, S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1843/394>, abgerufen am 22.02.2025.
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