Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 4. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite
8.
Das alte Mütterchen.

Es war in einer großen Stadt ein altes Mütterchen, das saß Abends allein in seiner Kammer: es dachte so darüber nach, wie es erst den Mann, dann die beiden Kinder, nach und nach alle Verwandte, endlich auch heute noch den letzten Freund verloren hätte, und nun ganz allein und verlassen wäre. Da ward es in tiefsten Herzen traurig, und vor allem schwer war ihm der Verlust der beiden Söhne, daß es in seinem Schmerz Gott darüber anklagte. So saß es still, und in sich versunken, als es auf einmal zur Frühkirche läuten hörte. Es wunderte sich daß es die ganze Nacht also in Leid zugebracht hätte, zündete seine Leuchte an, und gieng zur Kirche. Bei seiner Ankunft war sie schon erhellt, aber nicht, wie gewöhnlich, von Kerzen, sondern von einem dämmernden Lichte. Sie war auch schon angefüllt mit Menschen, und alle Plätze waren besetzt, und als das Mütterchen zu seinem gewöhnlichen Sitz kam, war er auch nicht mehr ledig, sondern die ganze Bank gedrängt voll. Und wie es die Leute ansah, so waren es lauter verstorbene Verwandten, die saßen da in ihren altmodischen Kleidern aber mit blassem Angesicht. Sie sprachen auch nicht und sangen nicht, es gieng aber ein leises Summen und Wehen durch die

8.
Das alte Mütterchen.

Es war in einer großen Stadt ein altes Mütterchen, das saß Abends allein in seiner Kammer: es dachte so darüber nach, wie es erst den Mann, dann die beiden Kinder, nach und nach alle Verwandte, endlich auch heute noch den letzten Freund verloren hätte, und nun ganz allein und verlassen wäre. Da ward es in tiefsten Herzen traurig, und vor allem schwer war ihm der Verlust der beiden Söhne, daß es in seinem Schmerz Gott darüber anklagte. So saß es still, und in sich versunken, als es auf einmal zur Frühkirche läuten hörte. Es wunderte sich daß es die ganze Nacht also in Leid zugebracht hätte, zündete seine Leuchte an, und gieng zur Kirche. Bei seiner Ankunft war sie schon erhellt, aber nicht, wie gewöhnlich, von Kerzen, sondern von einem dämmernden Lichte. Sie war auch schon angefüllt mit Menschen, und alle Plätze waren besetzt, und als das Mütterchen zu seinem gewöhnlichen Sitz kam, war er auch nicht mehr ledig, sondern die ganze Bank gedrängt voll. Und wie es die Leute ansah, so waren es lauter verstorbene Verwandten, die saßen da in ihren altmodischen Kleidern aber mit blassem Angesicht. Sie sprachen auch nicht und sangen nicht, es gieng aber ein leises Summen und Wehen durch die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0435" n="414"/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">8.<lb/>
Das alte Mütterchen.</hi> </head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">E</hi>s war in einer großen Stadt ein altes Mütterchen, das saß Abends allein in seiner Kammer: es dachte so darüber nach, wie es erst den Mann, dann die beiden Kinder, nach und nach alle Verwandte, endlich auch heute noch den letzten Freund verloren hätte, und nun ganz allein und verlassen wäre. Da ward es in tiefsten Herzen traurig, und vor allem schwer war ihm der Verlust der beiden Söhne, daß es in seinem Schmerz Gott darüber anklagte. So saß es still, und in sich versunken, als es auf einmal zur Frühkirche läuten hörte. Es wunderte sich daß es die ganze Nacht also in Leid zugebracht hätte, zündete seine Leuchte an, und gieng zur Kirche. Bei seiner Ankunft war sie schon erhellt, aber nicht, wie gewöhnlich, von Kerzen, sondern von einem dämmernden Lichte. Sie war auch schon angefüllt mit Menschen, und alle Plätze waren besetzt, und als das Mütterchen zu seinem gewöhnlichen Sitz kam, war er auch nicht mehr ledig, sondern die ganze Bank gedrängt voll. Und wie es die Leute ansah, so waren es lauter verstorbene Verwandten, die saßen da in ihren altmodischen Kleidern aber mit blassem Angesicht. Sie sprachen auch nicht und sangen nicht, es gieng aber ein leises Summen und Wehen durch die
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[414/0435] 8. Das alte Mütterchen. Es war in einer großen Stadt ein altes Mütterchen, das saß Abends allein in seiner Kammer: es dachte so darüber nach, wie es erst den Mann, dann die beiden Kinder, nach und nach alle Verwandte, endlich auch heute noch den letzten Freund verloren hätte, und nun ganz allein und verlassen wäre. Da ward es in tiefsten Herzen traurig, und vor allem schwer war ihm der Verlust der beiden Söhne, daß es in seinem Schmerz Gott darüber anklagte. So saß es still, und in sich versunken, als es auf einmal zur Frühkirche läuten hörte. Es wunderte sich daß es die ganze Nacht also in Leid zugebracht hätte, zündete seine Leuchte an, und gieng zur Kirche. Bei seiner Ankunft war sie schon erhellt, aber nicht, wie gewöhnlich, von Kerzen, sondern von einem dämmernden Lichte. Sie war auch schon angefüllt mit Menschen, und alle Plätze waren besetzt, und als das Mütterchen zu seinem gewöhnlichen Sitz kam, war er auch nicht mehr ledig, sondern die ganze Bank gedrängt voll. Und wie es die Leute ansah, so waren es lauter verstorbene Verwandten, die saßen da in ihren altmodischen Kleidern aber mit blassem Angesicht. Sie sprachen auch nicht und sangen nicht, es gieng aber ein leises Summen und Wehen durch die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Herzogin Anna Amalia Bibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2017-11-08T15:10:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-05-27T16:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1840/435
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 4. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1840, S. 414. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1840/435>, abgerufen am 21.11.2024.