Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite
93.
Die Rabe.

Es war einmal eine Mutter mit einem Töchterchen, das war noch klein, und wurde noch auf dem Arm getragen. Nun geschah es, daß das Kind einmal unruhig war, und die Mutter mochte sagen was sie wollte, es half nicht. Da ward sie ungeduldig, und weil die Raben so um das Haus herumflogen, machte sie daß Fenster auf, und sagte 'ich wollte du wärst eine Rabe, und flögst fort, so hätt ich Ruhe.' Und kaum hatte sie das Wort gesagt, so war das Kind eine Rabe, und flog von ihrem Arm zum Fenster hinaus. Die Rabe aber flog weg, und niemand konnte ihr folgen; sie flog aber in einen dunkelen Wald, und blieb lange Zeit darin. Danach führte einen Mann sein Weg in diesen Wald, und er hörte die Rabe rufen, und gieng der Stimme nach; und als er näher kam, sagte die Rabe zu ihm 'ich bin verwünscht worden, und bin eine Königstochter von Geburt, du kannst mich erlösen.' Da sprach er 'wie soll ich das anfangen?' Da sagte sie 'geh hin in das Haus dort, darin sitzt eine alte Frau, die wird dir Essen und Trinken reichen, und dich davon genießen heißen, aber du darfst nichts nehmen; denn wenn du trinkst, so trinkst du einen Schlaftrunk, und dann kannst du mich nicht erlösen. Jm Garten hinter dem Haus ist eine große Lohhucke, darauf sollst du stehen, und mich erwarten. Den Nachmittag um zwei Uhr komm ich in einer Kutsche, die ist mit vier weißen Hengsten

93.
Die Rabe.

Es war einmal eine Mutter mit einem Toͤchterchen, das war noch klein, und wurde noch auf dem Arm getragen. Nun geschah es, daß das Kind einmal unruhig war, und die Mutter mochte sagen was sie wollte, es half nicht. Da ward sie ungeduldig, und weil die Raben so um das Haus herumflogen, machte sie daß Fenster auf, und sagte ‘ich wollte du waͤrst eine Rabe, und floͤgst fort, so haͤtt ich Ruhe.’ Und kaum hatte sie das Wort gesagt, so war das Kind eine Rabe, und flog von ihrem Arm zum Fenster hinaus. Die Rabe aber flog weg, und niemand konnte ihr folgen; sie flog aber in einen dunkelen Wald, und blieb lange Zeit darin. Danach fuͤhrte einen Mann sein Weg in diesen Wald, und er hoͤrte die Rabe rufen, und gieng der Stimme nach; und als er naͤher kam, sagte die Rabe zu ihm ‘ich bin verwuͤnscht worden, und bin eine Koͤnigstochter von Geburt, du kannst mich erloͤsen.’ Da sprach er ‘wie soll ich das anfangen?’ Da sagte sie ‘geh hin in das Haus dort, darin sitzt eine alte Frau, die wird dir Essen und Trinken reichen, und dich davon genießen heißen, aber du darfst nichts nehmen; denn wenn du trinkst, so trinkst du einen Schlaftrunk, und dann kannst du mich nicht erloͤsen. Jm Garten hinter dem Haus ist eine große Lohhucke, darauf sollst du stehen, und mich erwarten. Den Nachmittag um zwei Uhr komm ich in einer Kutsche, die ist mit vier weißen Hengsten

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0065" n="49"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b">93.<lb/>
Die Rabe.</hi> </head><lb/>
        <p><hi rendition="#in">E</hi>s war einmal eine Mutter mit einem To&#x0364;chterchen, das war noch klein, und wurde noch auf dem Arm getragen. Nun geschah es, daß das Kind einmal unruhig war, und die Mutter mochte sagen was sie wollte, es half nicht. Da ward sie ungeduldig, und weil die Raben so um das Haus herumflogen, machte sie daß Fenster auf, und sagte &#x2018;ich wollte du wa&#x0364;rst eine Rabe, und flo&#x0364;gst fort, so ha&#x0364;tt ich Ruhe.&#x2019; Und kaum hatte sie das Wort gesagt, so war das Kind eine Rabe, und flog von ihrem Arm zum Fenster hinaus. Die Rabe aber flog weg, und niemand konnte ihr folgen; sie flog aber in einen dunkelen Wald, und blieb lange Zeit darin. Danach fu&#x0364;hrte einen Mann sein Weg in diesen Wald, und er ho&#x0364;rte die Rabe rufen, und gieng der Stimme nach; und als er na&#x0364;her kam, sagte die Rabe zu ihm &#x2018;ich bin verwu&#x0364;nscht worden, und bin eine Ko&#x0364;nigstochter von Geburt, du kannst mich erlo&#x0364;sen.&#x2019; Da sprach er &#x2018;wie soll ich das anfangen?&#x2019; Da sagte sie &#x2018;geh hin in das Haus dort, darin sitzt eine alte Frau, die wird dir Essen und Trinken reichen, und dich davon genießen heißen, aber du darfst nichts nehmen; denn wenn du trinkst, so trinkst du einen Schlaftrunk, und dann kannst du mich nicht erlo&#x0364;sen. Jm Garten hinter dem Haus ist eine große Lohhucke, darauf sollst du stehen, und mich erwarten. Den Nachmittag um zwei Uhr komm ich in einer Kutsche, die ist mit vier weißen Hengsten
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[49/0065] 93. Die Rabe. Es war einmal eine Mutter mit einem Toͤchterchen, das war noch klein, und wurde noch auf dem Arm getragen. Nun geschah es, daß das Kind einmal unruhig war, und die Mutter mochte sagen was sie wollte, es half nicht. Da ward sie ungeduldig, und weil die Raben so um das Haus herumflogen, machte sie daß Fenster auf, und sagte ‘ich wollte du waͤrst eine Rabe, und floͤgst fort, so haͤtt ich Ruhe.’ Und kaum hatte sie das Wort gesagt, so war das Kind eine Rabe, und flog von ihrem Arm zum Fenster hinaus. Die Rabe aber flog weg, und niemand konnte ihr folgen; sie flog aber in einen dunkelen Wald, und blieb lange Zeit darin. Danach fuͤhrte einen Mann sein Weg in diesen Wald, und er hoͤrte die Rabe rufen, und gieng der Stimme nach; und als er naͤher kam, sagte die Rabe zu ihm ‘ich bin verwuͤnscht worden, und bin eine Koͤnigstochter von Geburt, du kannst mich erloͤsen.’ Da sprach er ‘wie soll ich das anfangen?’ Da sagte sie ‘geh hin in das Haus dort, darin sitzt eine alte Frau, die wird dir Essen und Trinken reichen, und dich davon genießen heißen, aber du darfst nichts nehmen; denn wenn du trinkst, so trinkst du einen Schlaftrunk, und dann kannst du mich nicht erloͤsen. Jm Garten hinter dem Haus ist eine große Lohhucke, darauf sollst du stehen, und mich erwarten. Den Nachmittag um zwei Uhr komm ich in einer Kutsche, die ist mit vier weißen Hengsten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2015-05-11T18:40:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Staatsbibliothek zu Berlin: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-05-11T18:40:00Z)
Sandra Balck, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2015-06-15T16:12:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1837/65
Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1837, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1837/65>, abgerufen am 22.12.2024.