Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 2. Berlin, 1819.87.
Der Arme und der Reiche. Vor alten Zeiten, als der liebe Gott noch selber auf Erden unter den Menschen wandelte, trug es sich zu, daß er eines Abends müde war und ihn die Nacht überfiel, eh' er zu einer Herberge kommen konnte. Nun standen auf dem Weg vor ihm zwei Häuser einander gegenüber, das eine groß und schön, das andere klein und ärmlich anzusehen, und gehörte das große einem reichen, das kleine einem armen Manne. Da dachte unser Herr Gott: dem Reichen werde ich nicht beschwerlich fallen, bei ihm will ich anklopfen. Der Reiche, als er an seine Thüre klopfen hörte, machte das Fenster auf und fragte den Fremdling, was er suche? Der Herr antwortete: "ich bitte nur um ein Nachtlager." Der Reiche guckte den Wandersmann an vom Haupt bis zu den Füßen, und weil der liebe Gott schlichte Kleider trug und nicht aussah wie einer, der viel Geld in der Tasche hat, schüttelte er mit dem Kopf und sprach: "ich kann euch nicht aufnehmen, meine Kammern liegen voll Kräuter und Samen, und sollte ich einen jeden herbergen, der an meine Thüre klopfte, so könnte ich selber den Bettelstab in die Hand nehmen. Sucht anderswo ein Auskommen." 87.
Der Arme und der Reiche. Vor alten Zeiten, als der liebe Gott noch selber auf Erden unter den Menschen wandelte, trug es sich zu, daß er eines Abends muͤde war und ihn die Nacht uͤberfiel, eh’ er zu einer Herberge kommen konnte. Nun standen auf dem Weg vor ihm zwei Haͤuser einander gegenuͤber, das eine groß und schoͤn, das andere klein und aͤrmlich anzusehen, und gehoͤrte das große einem reichen, das kleine einem armen Manne. Da dachte unser Herr Gott: dem Reichen werde ich nicht beschwerlich fallen, bei ihm will ich anklopfen. Der Reiche, als er an seine Thuͤre klopfen hoͤrte, machte das Fenster auf und fragte den Fremdling, was er suche? Der Herr antwortete: „ich bitte nur um ein Nachtlager.“ Der Reiche guckte den Wandersmann an vom Haupt bis zu den Fuͤßen, und weil der liebe Gott schlichte Kleider trug und nicht aussah wie einer, der viel Geld in der Tasche hat, schuͤttelte er mit dem Kopf und sprach: „ich kann euch nicht aufnehmen, meine Kammern liegen voll Kraͤuter und Samen, und sollte ich einen jeden herbergen, der an meine Thuͤre klopfte, so koͤnnte ich selber den Bettelstab in die Hand nehmen. Sucht anderswo ein Auskommen.“ <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0079" n="[1]"/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div n="1"> <head> <hi rendition="#b">87.<lb/> Der Arme und der Reiche.</hi> </head><lb/> <p><hi rendition="#in">V</hi>or alten Zeiten, als der liebe Gott noch selber auf Erden unter den Menschen wandelte, trug es sich zu, daß er eines Abends muͤde war und ihn die Nacht uͤberfiel, eh’ er zu einer Herberge kommen konnte. Nun standen auf dem Weg vor ihm zwei Haͤuser einander gegenuͤber, das eine groß und schoͤn, das andere klein und aͤrmlich anzusehen, und gehoͤrte das große einem reichen, das kleine einem armen Manne. Da dachte unser Herr Gott: dem Reichen werde ich nicht beschwerlich fallen, bei ihm will ich anklopfen. Der Reiche, als er an seine Thuͤre klopfen hoͤrte, machte das Fenster auf und fragte den Fremdling, was er suche? Der Herr antwortete: „ich bitte nur um ein Nachtlager.“ Der Reiche guckte den Wandersmann an vom Haupt bis zu den Fuͤßen, und weil der liebe Gott schlichte Kleider trug und nicht aussah wie einer, der viel Geld in der Tasche hat, schuͤttelte er mit dem Kopf und sprach: „ich kann euch nicht aufnehmen, meine Kammern liegen voll Kraͤuter und Samen, und sollte ich einen jeden herbergen, der an meine Thuͤre klopfte, so koͤnnte ich selber den Bettelstab in die Hand nehmen. Sucht anderswo ein Auskommen.“ </p> </div> </body> </text> </TEI> [[1]/0079]
87.
Der Arme und der Reiche.
Vor alten Zeiten, als der liebe Gott noch selber auf Erden unter den Menschen wandelte, trug es sich zu, daß er eines Abends muͤde war und ihn die Nacht uͤberfiel, eh’ er zu einer Herberge kommen konnte. Nun standen auf dem Weg vor ihm zwei Haͤuser einander gegenuͤber, das eine groß und schoͤn, das andere klein und aͤrmlich anzusehen, und gehoͤrte das große einem reichen, das kleine einem armen Manne. Da dachte unser Herr Gott: dem Reichen werde ich nicht beschwerlich fallen, bei ihm will ich anklopfen. Der Reiche, als er an seine Thuͤre klopfen hoͤrte, machte das Fenster auf und fragte den Fremdling, was er suche? Der Herr antwortete: „ich bitte nur um ein Nachtlager.“ Der Reiche guckte den Wandersmann an vom Haupt bis zu den Fuͤßen, und weil der liebe Gott schlichte Kleider trug und nicht aussah wie einer, der viel Geld in der Tasche hat, schuͤttelte er mit dem Kopf und sprach: „ich kann euch nicht aufnehmen, meine Kammern liegen voll Kraͤuter und Samen, und sollte ich einen jeden herbergen, der an meine Thuͤre klopfte, so koͤnnte ich selber den Bettelstab in die Hand nehmen. Sucht anderswo ein Auskommen.“
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Zitationshilfe: | Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 2. Berlin, 1819, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1819/79>, abgerufen am 27.07.2024. |