Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 2. Berlin, 1819.6.
Die drei grünen Zweige. Es war einmal ein Einsiedler, der lebte in einem Walde, an dem Fuße eines Berges und brachte seine Zeit in Gebet und guten Werken zu, und jeden Abend trug er noch zur Ehre Gottes ein paar Eimer Wasser den Berg hinauf. Manches Thier hat er damit getränkt und manche Pflanze damit erquickt, denn auf den Anhöhen weht beständig ein harter Wind, der die Luft und die Erde austrocknet, und die wilden Vögel, die vor den Menschen scheuen, kreisen dann hoch und suchen mit ihren scharfen Augen nach einem Trunk. Und weil der Einsiedler so fromm war, so ging ein Engel Gottes seinen Augen sichtbar mit ihm hinauf, zählte seine Schritte und brachte ihm, wenn die Arbeit vollendet war, sein Essen, so wie jener Prophet auf Gottes Geheiß von den Raben gespeiset wurde. Als der Einsiedler in seiner Frömmigkeit schon zu einem hohen Alter gekommen war, da trug es sich zu, daß er einmal von weitem sah, wie ein armer Sünder zum Galgen geführt wurde und er zu sich selber sprach: "jetzt widerfährt diesem sein Recht!" Abends, als er das Wasser den Berg hinauftrug, erschien der Engel nicht, der ihn sonst begleitete und brachte ihm auch nicht seine Speise. Da erschrak er, prüfte sein Herz und bedachte, womit er wohl könnte gesündigt haben, weil Gott also zürne; aber er wußte es nicht. Da aß und trank er nicht, warf sich nieder auf die Erde und betete Tag und Nacht. Und als er einmal in dem Walde so recht bitterlich weinte, hörte 6.
Die drei gruͤnen Zweige. Es war einmal ein Einsiedler, der lebte in einem Walde, an dem Fuße eines Berges und brachte seine Zeit in Gebet und guten Werken zu, und jeden Abend trug er noch zur Ehre Gottes ein paar Eimer Wasser den Berg hinauf. Manches Thier hat er damit getraͤnkt und manche Pflanze damit erquickt, denn auf den Anhoͤhen weht bestaͤndig ein harter Wind, der die Luft und die Erde austrocknet, und die wilden Voͤgel, die vor den Menschen scheuen, kreisen dann hoch und suchen mit ihren scharfen Augen nach einem Trunk. Und weil der Einsiedler so fromm war, so ging ein Engel Gottes seinen Augen sichtbar mit ihm hinauf, zaͤhlte seine Schritte und brachte ihm, wenn die Arbeit vollendet war, sein Essen, so wie jener Prophet auf Gottes Geheiß von den Raben gespeiset wurde. Als der Einsiedler in seiner Froͤmmigkeit schon zu einem hohen Alter gekommen war, da trug es sich zu, daß er einmal von weitem sah, wie ein armer Suͤnder zum Galgen gefuͤhrt wurde und er zu sich selber sprach: „jetzt widerfaͤhrt diesem sein Recht!“ Abends, als er das Wasser den Berg hinauftrug, erschien der Engel nicht, der ihn sonst begleitete und brachte ihm auch nicht seine Speise. Da erschrak er, pruͤfte sein Herz und bedachte, womit er wohl koͤnnte gesuͤndigt haben, weil Gott also zuͤrne; aber er wußte es nicht. Da aß und trank er nicht, warf sich nieder auf die Erde und betete Tag und Nacht. Und als er einmal in dem Walde so recht bitterlich weinte, hoͤrte <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0376" n="298"/> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b">6.<lb/> Die drei gruͤnen Zweige.</hi> </head><lb/> <p>Es war einmal ein Einsiedler, der lebte in einem Walde, an dem Fuße eines Berges und brachte seine Zeit in Gebet und guten Werken zu, und jeden Abend trug er noch zur Ehre Gottes ein paar Eimer Wasser den Berg hinauf. Manches Thier hat er damit getraͤnkt und manche Pflanze damit erquickt, denn auf den Anhoͤhen weht bestaͤndig ein harter Wind, der die Luft und die Erde austrocknet, und die wilden Voͤgel, die vor den Menschen scheuen, kreisen dann hoch und suchen mit ihren scharfen Augen nach einem Trunk. Und weil der Einsiedler so fromm war, so ging ein Engel Gottes seinen Augen sichtbar mit ihm hinauf, zaͤhlte seine Schritte und brachte ihm, wenn die Arbeit vollendet war, sein Essen, so wie jener Prophet auf Gottes Geheiß von den Raben gespeiset wurde. Als der Einsiedler in seiner Froͤmmigkeit schon zu einem hohen Alter gekommen war, da trug es sich zu, daß er einmal von weitem sah, wie ein armer Suͤnder zum Galgen gefuͤhrt wurde und er zu sich selber sprach: „jetzt widerfaͤhrt diesem sein Recht!“ Abends, als er das Wasser den Berg hinauftrug, erschien der Engel nicht, der ihn sonst begleitete und brachte ihm auch nicht seine Speise. Da erschrak er, pruͤfte sein Herz und bedachte, womit er wohl koͤnnte gesuͤndigt haben, weil Gott also zuͤrne; aber er wußte es nicht. Da aß und trank er nicht, warf sich nieder auf die Erde und betete Tag und Nacht. Und als er einmal in dem Walde so recht bitterlich weinte, hoͤrte </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [298/0376]
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Die drei gruͤnen Zweige.
Es war einmal ein Einsiedler, der lebte in einem Walde, an dem Fuße eines Berges und brachte seine Zeit in Gebet und guten Werken zu, und jeden Abend trug er noch zur Ehre Gottes ein paar Eimer Wasser den Berg hinauf. Manches Thier hat er damit getraͤnkt und manche Pflanze damit erquickt, denn auf den Anhoͤhen weht bestaͤndig ein harter Wind, der die Luft und die Erde austrocknet, und die wilden Voͤgel, die vor den Menschen scheuen, kreisen dann hoch und suchen mit ihren scharfen Augen nach einem Trunk. Und weil der Einsiedler so fromm war, so ging ein Engel Gottes seinen Augen sichtbar mit ihm hinauf, zaͤhlte seine Schritte und brachte ihm, wenn die Arbeit vollendet war, sein Essen, so wie jener Prophet auf Gottes Geheiß von den Raben gespeiset wurde. Als der Einsiedler in seiner Froͤmmigkeit schon zu einem hohen Alter gekommen war, da trug es sich zu, daß er einmal von weitem sah, wie ein armer Suͤnder zum Galgen gefuͤhrt wurde und er zu sich selber sprach: „jetzt widerfaͤhrt diesem sein Recht!“ Abends, als er das Wasser den Berg hinauftrug, erschien der Engel nicht, der ihn sonst begleitete und brachte ihm auch nicht seine Speise. Da erschrak er, pruͤfte sein Herz und bedachte, womit er wohl koͤnnte gesuͤndigt haben, weil Gott also zuͤrne; aber er wußte es nicht. Da aß und trank er nicht, warf sich nieder auf die Erde und betete Tag und Nacht. Und als er einmal in dem Walde so recht bitterlich weinte, hoͤrte
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Zitationshilfe: | Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 2. Berlin, 1819, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1819/376>, abgerufen am 22.02.2025. |