Schimpf und Schande fort, er aber sprach voll Zorn innerlich: "Ich will mich schon rächen." -- Nach einiger Zeit hielt das Mädchen Hochzeit, war geputzt, und ging in einem großen Zug über das Feld nach dem Ort, wo die Kirche stand. Auf einmal kamen sie an einen stark angeschwollenen Bach, und war keine Brücke und kein Steg dar- über zu gehen. Da war die Braut flink, hob ihre Kleider auf und wollte durchwaten. Wie sie nun eben im Wasser so steht, ruft ein Mann und das war der Zauberer neben ihr ganz spöttisch: "Ei, wo hast du deine Augen, daß du das für ein Wasser hältst." Da gingen ihr die Augen auf und sie sah, daß sie mit ihren aufgehobenen Kleidern mitten in einem blaublühenden Flachs- feld stand. Da sahen es die Leute auch allesammt und jagten sie mit Schimpf und Gelächter fort.
64. Die alte Bettelfrau.
Es war einmal eine alte Frau, du hast wohl ehe eine alte Frau seh'n betteln geh'n? Diese alte Frau bettelte auch, und wenn sie etwas bekam, dann sagte sie: Gott lohn' euch! Die Bettelfrau kam an eine Thür, da stand ein freundlicher Schelm von Jungen am Feuer und wärmte sich. Der Junge sagte freundlich zu der armen alten Frau, wie sie so an der Thür stund und zitterte,
Schimpf und Schande fort, er aber ſprach voll Zorn innerlich: „Ich will mich ſchon raͤchen.“ — Nach einiger Zeit hielt das Maͤdchen Hochzeit, war geputzt, und ging in einem großen Zug uͤber das Feld nach dem Ort, wo die Kirche ſtand. Auf einmal kamen ſie an einen ſtark angeſchwollenen Bach, und war keine Bruͤcke und kein Steg dar- uͤber zu gehen. Da war die Braut flink, hob ihre Kleider auf und wollte durchwaten. Wie ſie nun eben im Waſſer ſo ſteht, ruft ein Mann und das war der Zauberer neben ihr ganz ſpoͤttiſch: „Ei, wo haſt du deine Augen, daß du das fuͤr ein Waſſer haͤltſt.“ Da gingen ihr die Augen auf und ſie ſah, daß ſie mit ihren aufgehobenen Kleidern mitten in einem blaubluͤhenden Flachs- feld ſtand. Da ſahen es die Leute auch alleſammt und jagten ſie mit Schimpf und Gelaͤchter fort.
64. Die alte Bettelfrau.
Es war einmal eine alte Frau, du haſt wohl ehe eine alte Frau ſeh’n betteln geh’n? Dieſe alte Frau bettelte auch, und wenn ſie etwas bekam, dann ſagte ſie: Gott lohn’ euch! Die Bettelfrau kam an eine Thuͤr, da ſtand ein freundlicher Schelm von Jungen am Feuer und waͤrmte ſich. Der Junge ſagte freundlich zu der armen alten Frau, wie ſie ſo an der Thuͤr ſtund und zitterte,
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Schimpf und Schande fort, er aber ſprach voll
Zorn innerlich: „Ich will mich ſchon raͤchen.“ —
Nach einiger Zeit hielt das Maͤdchen Hochzeit,
war geputzt, und ging in einem großen Zug uͤber
das Feld nach dem Ort, wo die Kirche ſtand. Auf
einmal kamen ſie an einen ſtark angeſchwollenen
Bach, und war keine Bruͤcke und kein Steg dar-
uͤber zu gehen. Da war die Braut flink, hob
ihre Kleider auf und wollte durchwaten. Wie ſie
nun eben im Waſſer ſo ſteht, ruft ein Mann und
das war der Zauberer neben ihr ganz ſpoͤttiſch:
„Ei, wo haſt du deine Augen, daß du das fuͤr
ein Waſſer haͤltſt.“ Da gingen ihr die Augen
auf und ſie ſah, daß ſie mit ihren aufgehobenen
Kleidern mitten in einem blaubluͤhenden Flachs-
feld ſtand. Da ſahen es die Leute auch alleſammt
und jagten ſie mit Schimpf und Gelaͤchter fort.
64.
Die alte Bettelfrau.
Es war einmal eine alte Frau, du haſt wohl
ehe eine alte Frau ſeh’n betteln geh’n? Dieſe alte
Frau bettelte auch, und wenn ſie etwas bekam,
dann ſagte ſie: Gott lohn’ euch! Die Bettelfrau
kam an eine Thuͤr, da ſtand ein freundlicher
Schelm von Jungen am Feuer und waͤrmte ſich.
Der Junge ſagte freundlich zu der armen alten
Frau, wie ſie ſo an der Thuͤr ſtund und zitterte,
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815/312>, abgerufen am 18.12.2024.
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