die zwölf Räuber kamen herein, und als sie ihn sahen, waren sie froh und riefen: "Vogel, haben wir dich endlich, meinst du wir hätten's nicht ge- merkt, daß du zwei Mal hereingekommen bist, aber wir konnten dich nicht fangen, zum dritten Mal sollst du nicht wieder heraus." Da rief er: ich war's nicht; mein Bruder war's!" aber er mogte bitten um sein Leben, und sagen was er wollte, sie schlugen ihm das Haupt ab.
57. Die Kinder in Hungersnoth.
Es war einmal eine Frau mit ihren zwei Töchtern in solche Armuth gerathen, daß sie auch nicht ein Bischen Brot mehr in den Mund zu stecken hatten. Wie nun der Hunger bei ihnen so groß ward, daß die Mutter ganz außer sich und in Verzweiflung gerieth, sprach sie zu der ältesten: "ich muß dich tödten, damit ich etwas zu essen habe." Die Tochter sagte: "ach, liebe Mutter, schont meiner, ich will ausgehen und sehen, daß ich etwas zu essen kriege ohne Bet- telei." Da ging sie aus, kam wieder, und hatte ein Stückchen Brot eingebracht, das aßen sie miteinander, es war aber zu wenig, um den Hun- ger zu stillen. Darum hub die Mutter zur andern Tochter an: "so mußt du daran." Sie antwortete aber: "ach, liebe Mutter, schont meiner, ich
S 2
die zwoͤlf Raͤuber kamen herein, und als ſie ihn ſahen, waren ſie froh und riefen: „Vogel, haben wir dich endlich, meinſt du wir haͤtten’s nicht ge- merkt, daß du zwei Mal hereingekommen biſt, aber wir konnten dich nicht fangen, zum dritten Mal ſollſt du nicht wieder heraus.“ Da rief er: ich war’s nicht; mein Bruder war’s!“ aber er mogte bitten um ſein Leben, und ſagen was er wollte, ſie ſchlugen ihm das Haupt ab.
57. Die Kinder in Hungersnoth.
Es war einmal eine Frau mit ihren zwei Toͤchtern in ſolche Armuth gerathen, daß ſie auch nicht ein Bischen Brot mehr in den Mund zu ſtecken hatten. Wie nun der Hunger bei ihnen ſo groß ward, daß die Mutter ganz außer ſich und in Verzweiflung gerieth, ſprach ſie zu der aͤlteſten: „ich muß dich toͤdten, damit ich etwas zu eſſen habe.“ Die Tochter ſagte: „ach, liebe Mutter, ſchont meiner, ich will ausgehen und ſehen, daß ich etwas zu eſſen kriege ohne Bet- telei.“ Da ging ſie aus, kam wieder, und hatte ein Stuͤckchen Brot eingebracht, das aßen ſie miteinander, es war aber zu wenig, um den Hun- ger zu ſtillen. Darum hub die Mutter zur andern Tochter an: „ſo mußt du daran.“ Sie antwortete aber: „ach, liebe Mutter, ſchont meiner, ich
S 2
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0296"n="275"/>
die zwoͤlf Raͤuber kamen herein, und als ſie ihn<lb/>ſahen, waren ſie froh und riefen: „Vogel, haben<lb/>
wir dich endlich, meinſt du wir haͤtten’s nicht ge-<lb/>
merkt, daß du zwei Mal hereingekommen biſt,<lb/>
aber wir konnten dich nicht fangen, zum dritten<lb/>
Mal ſollſt du nicht wieder heraus.“ Da rief er:<lb/>
ich war’s nicht; mein Bruder war’s!“ aber er<lb/>
mogte bitten um ſein Leben, und ſagen was er<lb/>
wollte, ſie ſchlugen ihm das Haupt ab.</p></div><lb/><divn="1"><head>57.<lb/><hirendition="#g">Die Kinder in Hungersnoth</hi>.</head><lb/><p>Es war einmal eine Frau mit ihren zwei<lb/>
Toͤchtern in ſolche Armuth gerathen, daß ſie auch<lb/>
nicht ein Bischen Brot mehr in den Mund zu<lb/>ſtecken hatten. Wie nun der Hunger bei ihnen<lb/>ſo groß ward, daß die Mutter ganz außer ſich<lb/>
und in Verzweiflung gerieth, ſprach ſie zu der<lb/>
aͤlteſten: „ich muß dich toͤdten, damit ich etwas<lb/>
zu eſſen habe.“ Die Tochter ſagte: „ach, liebe<lb/>
Mutter, ſchont meiner, ich will ausgehen und<lb/>ſehen, daß ich etwas zu eſſen kriege ohne Bet-<lb/>
telei.“ Da ging ſie aus, kam wieder, und hatte<lb/>
ein Stuͤckchen Brot eingebracht, das aßen ſie<lb/>
miteinander, es war aber zu wenig, um den Hun-<lb/>
ger zu ſtillen. Darum hub die Mutter zur andern<lb/>
Tochter an: „ſo mußt du daran.“ Sie antwortete<lb/>
aber: „ach, liebe Mutter, ſchont meiner, ich<lb/><fwplace="bottom"type="sig">S 2</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[275/0296]
die zwoͤlf Raͤuber kamen herein, und als ſie ihn
ſahen, waren ſie froh und riefen: „Vogel, haben
wir dich endlich, meinſt du wir haͤtten’s nicht ge-
merkt, daß du zwei Mal hereingekommen biſt,
aber wir konnten dich nicht fangen, zum dritten
Mal ſollſt du nicht wieder heraus.“ Da rief er:
ich war’s nicht; mein Bruder war’s!“ aber er
mogte bitten um ſein Leben, und ſagen was er
wollte, ſie ſchlugen ihm das Haupt ab.
57.
Die Kinder in Hungersnoth.
Es war einmal eine Frau mit ihren zwei
Toͤchtern in ſolche Armuth gerathen, daß ſie auch
nicht ein Bischen Brot mehr in den Mund zu
ſtecken hatten. Wie nun der Hunger bei ihnen
ſo groß ward, daß die Mutter ganz außer ſich
und in Verzweiflung gerieth, ſprach ſie zu der
aͤlteſten: „ich muß dich toͤdten, damit ich etwas
zu eſſen habe.“ Die Tochter ſagte: „ach, liebe
Mutter, ſchont meiner, ich will ausgehen und
ſehen, daß ich etwas zu eſſen kriege ohne Bet-
telei.“ Da ging ſie aus, kam wieder, und hatte
ein Stuͤckchen Brot eingebracht, das aßen ſie
miteinander, es war aber zu wenig, um den Hun-
ger zu ſtillen. Darum hub die Mutter zur andern
Tochter an: „ſo mußt du daran.“ Sie antwortete
aber: „ach, liebe Mutter, ſchont meiner, ich
S 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815/296>, abgerufen am 18.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.