Ein Schneidergesell reiste in der Welt auf sein Handwerk herum; nun konnt' er einmal keine Arbeit finden und war die Armuth bei ihm so groß, daß er keinen Heller Zehrgeld hatte. In der Zeit begegnete ihm auf dem Weg ein Jude und da dachte er, der hätte viel Geld bei sich und stieß Gott aus seinem Herzen, ging auf ihn los und sprach: "gib mir dein Geld oder ich schlag dich todt!" Da sagte der Jude: "schenkt mir doch das Leben, Geld hab' ich keins und nicht mehr als acht Heller." Der Schneider aber sprach: "du hast doch Geld und das soll auch her- aus!" brauchte Gewalt und schlug ihn so lange, bis er nah am Tod war. Und wie der Jude nun sterben wollte, sprach er das letzte Wort: "die klare Sonne wird es an den Tag bringen!" und starb damit. Der Schneidergesell griff ihm in die Taschen und suchte nach Geld, aber er fand nicht mehr als die acht Heller, wie der Jude ge- sagt hatte. Da packte er auf, trug ihn hinter einen Busch und zog weiter auf seine Profession. Wie er nun lange Zeit gereist war, kam er in eine Stadt bei einen Meister in Arbeit, der hatte eine schöne Tochter, in die verliebte er sich und heira- thete sie und lebte in einer guten, vergnügten Ehe.
29. Die klare Sonne bringt’s an den Tag.
Ein Schneidergeſell reiſte in der Welt auf ſein Handwerk herum; nun konnt’ er einmal keine Arbeit finden und war die Armuth bei ihm ſo groß, daß er keinen Heller Zehrgeld hatte. In der Zeit begegnete ihm auf dem Weg ein Jude und da dachte er, der haͤtte viel Geld bei ſich und ſtieß Gott aus ſeinem Herzen, ging auf ihn los und ſprach: „gib mir dein Geld oder ich ſchlag dich todt!“ Da ſagte der Jude: „ſchenkt mir doch das Leben, Geld hab’ ich keins und nicht mehr als acht Heller.“ Der Schneider aber ſprach: „du haſt doch Geld und das ſoll auch her- aus!“ brauchte Gewalt und ſchlug ihn ſo lange, bis er nah am Tod war. Und wie der Jude nun ſterben wollte, ſprach er das letzte Wort: „die klare Sonne wird es an den Tag bringen!“ und ſtarb damit. Der Schneidergeſell griff ihm in die Taſchen und ſuchte nach Geld, aber er fand nicht mehr als die acht Heller, wie der Jude ge- ſagt hatte. Da packte er auf, trug ihn hinter einen Buſch und zog weiter auf ſeine Profeſſion. Wie er nun lange Zeit gereiſt war, kam er in eine Stadt bei einen Meiſter in Arbeit, der hatte eine ſchoͤne Tochter, in die verliebte er ſich und heira- thete ſie und lebte in einer guten, vergnuͤgten Ehe.
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29.
Die klare Sonne bringt’s an den Tag.
Ein Schneidergeſell reiſte in der Welt auf
ſein Handwerk herum; nun konnt’ er einmal keine
Arbeit finden und war die Armuth bei ihm ſo
groß, daß er keinen Heller Zehrgeld hatte. In
der Zeit begegnete ihm auf dem Weg ein Jude
und da dachte er, der haͤtte viel Geld bei ſich und
ſtieß Gott aus ſeinem Herzen, ging auf ihn los
und ſprach: „gib mir dein Geld oder ich ſchlag
dich todt!“ Da ſagte der Jude: „ſchenkt mir
doch das Leben, Geld hab’ ich keins und nicht
mehr als acht Heller.“ Der Schneider aber
ſprach: „du haſt doch Geld und das ſoll auch her-
aus!“ brauchte Gewalt und ſchlug ihn ſo lange,
bis er nah am Tod war. Und wie der Jude nun
ſterben wollte, ſprach er das letzte Wort: „die
klare Sonne wird es an den Tag bringen!“ und
ſtarb damit. Der Schneidergeſell griff ihm in
die Taſchen und ſuchte nach Geld, aber er fand
nicht mehr als die acht Heller, wie der Jude ge-
ſagt hatte. Da packte er auf, trug ihn hinter
einen Buſch und zog weiter auf ſeine Profeſſion.
Wie er nun lange Zeit gereiſt war, kam er in eine
Stadt bei einen Meiſter in Arbeit, der hatte eine
ſchoͤne Tochter, in die verliebte er ſich und heira-
thete ſie und lebte in einer guten, vergnuͤgten Ehe.
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815/186>, abgerufen am 18.11.2024.
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