darüber konnte sich die Mutter nicht trösten und weinte Tag und Nacht. Als aber das Kind noch gar nicht lang begraben, so zeigte es sich in der Nacht an den Plätzen, wo es sonst gesessen und gespielt, und weinte die Mutter, so weinte es auch, aber wenn der Morgen kam, war es ver- schwunden. Als nun die Mutter gar nicht auf- hören wollte zu weinen, kam es in einer Nacht mit seinem weißen Todtenhemdchen, in dem es in den Sarg gelegt war, und mit dem Kränzchen auf dem Kopf, setzte sich zu ihren Füßen auf das Bett und sprach: "ach Mutter, hör' doch auf zu weinen, sonst kann ich in meinem Sarge nicht einschlafen, denn mein Todtenhemdchen wird gar nicht trocken von deinen Thränen, die alle darauf fallen." Da erschrack die Mutter, als sie das hörte und weinte nicht mehr und in der andern Nacht kam das Kindchen wieder mit einem Licht- chen in der Hand und sagte: "siehst du, nun ist mein Hemdchen bald trocken und ich habe Ruhe in meinem Grab." Da befahl die Mutter dem lieben Gott ihr Leid und ertrug es still und gedul- dig, und das Kind kam nicht wieder, sondern schlief in seinem unterirdischen Bettchen.
24. Der Jud' im Dorn.
Ein Bauer hatte einen gar getreuen und fleißigen Knecht, der diente ihm schon drei Jahre,
daruͤber konnte ſich die Mutter nicht troͤſten und weinte Tag und Nacht. Als aber das Kind noch gar nicht lang begraben, ſo zeigte es ſich in der Nacht an den Plaͤtzen, wo es ſonſt geſeſſen und geſpielt, und weinte die Mutter, ſo weinte es auch, aber wenn der Morgen kam, war es ver- ſchwunden. Als nun die Mutter gar nicht auf- hoͤren wollte zu weinen, kam es in einer Nacht mit ſeinem weißen Todtenhemdchen, in dem es in den Sarg gelegt war, und mit dem Kraͤnzchen auf dem Kopf, ſetzte ſich zu ihren Fuͤßen auf das Bett und ſprach: „ach Mutter, hoͤr’ doch auf zu weinen, ſonſt kann ich in meinem Sarge nicht einſchlafen, denn mein Todtenhemdchen wird gar nicht trocken von deinen Thraͤnen, die alle darauf fallen.“ Da erſchrack die Mutter, als ſie das hoͤrte und weinte nicht mehr und in der andern Nacht kam das Kindchen wieder mit einem Licht- chen in der Hand und ſagte: „ſiehſt du, nun iſt mein Hemdchen bald trocken und ich habe Ruhe in meinem Grab.“ Da befahl die Mutter dem lieben Gott ihr Leid und ertrug es ſtill und gedul- dig, und das Kind kam nicht wieder, ſondern ſchlief in ſeinem unterirdiſchen Bettchen.
24. Der Jud’ im Dorn.
Ein Bauer hatte einen gar getreuen und fleißigen Knecht, der diente ihm ſchon drei Jahre,
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daruͤber konnte ſich die Mutter nicht troͤſten und
weinte Tag und Nacht. Als aber das Kind noch
gar nicht lang begraben, ſo zeigte es ſich in der
Nacht an den Plaͤtzen, wo es ſonſt geſeſſen und
geſpielt, und weinte die Mutter, ſo weinte es
auch, aber wenn der Morgen kam, war es ver-
ſchwunden. Als nun die Mutter gar nicht auf-
hoͤren wollte zu weinen, kam es in einer Nacht mit
ſeinem weißen Todtenhemdchen, in dem es in den
Sarg gelegt war, und mit dem Kraͤnzchen auf
dem Kopf, ſetzte ſich zu ihren Fuͤßen auf das
Bett und ſprach: „ach Mutter, hoͤr’ doch auf zu
weinen, ſonſt kann ich in meinem Sarge nicht
einſchlafen, denn mein Todtenhemdchen wird gar
nicht trocken von deinen Thraͤnen, die alle darauf
fallen.“ Da erſchrack die Mutter, als ſie das
hoͤrte und weinte nicht mehr und in der andern
Nacht kam das Kindchen wieder mit einem Licht-
chen in der Hand und ſagte: „ſiehſt du, nun iſt
mein Hemdchen bald trocken und ich habe Ruhe
in meinem Grab.“ Da befahl die Mutter dem
lieben Gott ihr Leid und ertrug es ſtill und gedul-
dig, und das Kind kam nicht wieder, ſondern
ſchlief in ſeinem unterirdiſchen Bettchen.
24.
Der Jud’ im Dorn.
Ein Bauer hatte einen gar getreuen und
fleißigen Knecht, der diente ihm ſchon drei Jahre,
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 2. Berlin, 1815, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1815/154>, abgerufen am 18.11.2024.
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