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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1837.

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11.
Brüderchen und Schwesterchen.

Brüderchen nahm sein Schwesterchen an der Hand, und sprach 'seit die Mutter todt ist, haben wir keine gute Stunde mehr; die Stiefmutter schlägt uns alle Tage, und wenn wir zu ihr kommen, stößt sie uns mit den Füßen fort. Die harten Brotkrusten, die übrig bleiben, sind unsere Speise, und dem Hündlein unter dem Tisch geht's besser: dem wirft sie doch manchmal was Gutes zu. Daß Gott erbarm, wenn das unsere Mutter wüßte! Komm, wir wollen miteinander in die weite Welt gehen.' Sie giengen den ganzen Tag über Wiesen, Felder und Steine, und wenn es regnete, sprach das Schwesterchen 'Gott und unsere Herzen, die weinen zusammen!' Abends kamen sie in einen großen Wald, und waren so müde von Jammer, Hunger und dem langen Weg, da sie sich in einen hohlen Baum setzten und einschliefen.

Am andern Morgen, als sie aufwachten, stand die Sonne schon hoch am Himmel, und schien heiß in den Baum hinein. Da sprach das Brüderchen 'Schwesterchen, mich dürstet, wenn ich ein Brünnlein wüßte, ich gieng und tränk einmal; ich mein, ich hört eins rauschen.' Brüderchen stand auf, nahm

11.
Bruͤderchen und Schwesterchen.

Bruͤderchen nahm sein Schwesterchen an der Hand, und sprach ‘seit die Mutter todt ist, haben wir keine gute Stunde mehr; die Stiefmutter schlaͤgt uns alle Tage, und wenn wir zu ihr kommen, stoͤßt sie uns mit den Fuͤßen fort. Die harten Brotkrusten, die uͤbrig bleiben, sind unsere Speise, und dem Huͤndlein unter dem Tisch geht’s besser: dem wirft sie doch manchmal was Gutes zu. Daß Gott erbarm, wenn das unsere Mutter wuͤßte! Komm, wir wollen miteinander in die weite Welt gehen.’ Sie giengen den ganzen Tag uͤber Wiesen, Felder und Steine, und wenn es regnete, sprach das Schwesterchen ‘Gott und unsere Herzen, die weinen zusammen!’ Abends kamen sie in einen großen Wald, und waren so muͤde von Jammer, Hunger und dem langen Weg, da sie sich in einen hohlen Baum setzten und einschliefen.

Am andern Morgen, als sie aufwachten, stand die Sonne schon hoch am Himmel, und schien heiß in den Baum hinein. Da sprach das Bruͤderchen ‘Schwesterchen, mich duͤrstet, wenn ich ein Bruͤnnlein wuͤßte, ich gieng und traͤnk einmal; ich mein, ich hoͤrt eins rauschen.’ Bruͤderchen stand auf, nahm

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[67/0098] 11. Bruͤderchen und Schwesterchen. Bruͤderchen nahm sein Schwesterchen an der Hand, und sprach ‘seit die Mutter todt ist, haben wir keine gute Stunde mehr; die Stiefmutter schlaͤgt uns alle Tage, und wenn wir zu ihr kommen, stoͤßt sie uns mit den Fuͤßen fort. Die harten Brotkrusten, die uͤbrig bleiben, sind unsere Speise, und dem Huͤndlein unter dem Tisch geht’s besser: dem wirft sie doch manchmal was Gutes zu. Daß Gott erbarm, wenn das unsere Mutter wuͤßte! Komm, wir wollen miteinander in die weite Welt gehen.’ Sie giengen den ganzen Tag uͤber Wiesen, Felder und Steine, und wenn es regnete, sprach das Schwesterchen ‘Gott und unsere Herzen, die weinen zusammen!’ Abends kamen sie in einen großen Wald, und waren so muͤde von Jammer, Hunger und dem langen Weg, da sie sich in einen hohlen Baum setzten und einschliefen. Am andern Morgen, als sie aufwachten, stand die Sonne schon hoch am Himmel, und schien heiß in den Baum hinein. Da sprach das Bruͤderchen ‘Schwesterchen, mich duͤrstet, wenn ich ein Bruͤnnlein wuͤßte, ich gieng und traͤnk einmal; ich mein, ich hoͤrt eins rauschen.’ Bruͤderchen stand auf, nahm

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1837, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1837/98>, abgerufen am 18.12.2024.