Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 3. Aufl. Bd. 1. Göttingen, 1837.28. Der singende Knochen. Es war einmal in einem Lande große Klage über ein Wildschwein, das den Bauern die Aecker umwühlte, das Vieh tödtete, und den Menschen mit seinen Hauern den Leib aufriß. Der König versprach einem jeden, der das Land von dieser Plage befreien würde, eine große Belohnung, aber das Thier war so groß und stark, daß sich niemand in die Nähe des Waldes wagte, worin es hauste. Endlich ließ der König bekannt machen wer das Wildschwein einfange oder tödte, solle seine einzige Tochter zur Gemahlin haben. Nun lebten zwei Brüder in dem Lande, Söhne eines armen Mannes, die meldeten sich und wollten das Wagnis übernehmen. Der älteste, der listig und klug war, that es aus Hochmuth, der jüngste, der unschuldig und dumm war, aus gutem Herzen. Der König sagte 'damit ihr desto sichrer das Thier findet, so sollt ihr von entgegengesetzten Seiten in den Wald gehen.' Da gieng der älteste von Abend und der jüngste von Morgen hinein. Und als der jüngste ein Weilchen gegangen war, so trat ein kleines Männlein zu ihm, das hielt einen schwarzen Spieß in der Hand, und sprach 'diesen Spieß gebe ich dir, weil dein Herz unschuldig und gut ist, damit kannst du getrost auf das wilde Schwein eingehen, es wird dir keinen Schaden zufügen.' Er 28. Der singende Knochen. Es war einmal in einem Lande große Klage uͤber ein Wildschwein, das den Bauern die Aecker umwuͤhlte, das Vieh toͤdtete, und den Menschen mit seinen Hauern den Leib aufriß. Der Koͤnig versprach einem jeden, der das Land von dieser Plage befreien wuͤrde, eine große Belohnung, aber das Thier war so groß und stark, daß sich niemand in die Naͤhe des Waldes wagte, worin es hauste. Endlich ließ der Koͤnig bekannt machen wer das Wildschwein einfange oder toͤdte, solle seine einzige Tochter zur Gemahlin haben. Nun lebten zwei Bruͤder in dem Lande, Soͤhne eines armen Mannes, die meldeten sich und wollten das Wagnis uͤbernehmen. Der aͤlteste, der listig und klug war, that es aus Hochmuth, der juͤngste, der unschuldig und dumm war, aus gutem Herzen. Der Koͤnig sagte ‘damit ihr desto sichrer das Thier findet, so sollt ihr von entgegengesetzten Seiten in den Wald gehen.’ Da gieng der aͤlteste von Abend und der juͤngste von Morgen hinein. Und als der juͤngste ein Weilchen gegangen war, so trat ein kleines Maͤnnlein zu ihm, das hielt einen schwarzen Spieß in der Hand, und sprach ‘diesen Spieß gebe ich dir, weil dein Herz unschuldig und gut ist, damit kannst du getrost auf das wilde Schwein eingehen, es wird dir keinen Schaden zufuͤgen.’ Er <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0204" n="171"/> <div n="1"> <head> <hi rendition="#b">28.<lb/> Der singende Knochen.</hi> </head><lb/> <p><hi rendition="#in">E</hi>s war einmal in einem Lande große Klage uͤber ein Wildschwein, das den Bauern die Aecker umwuͤhlte, das Vieh toͤdtete, und den Menschen mit seinen Hauern den Leib aufriß. Der Koͤnig versprach einem jeden, der das Land von dieser Plage befreien wuͤrde, eine große Belohnung, aber das Thier war so groß und stark, daß sich niemand in die Naͤhe des Waldes wagte, worin es hauste. Endlich ließ der Koͤnig bekannt machen wer das Wildschwein einfange oder toͤdte, solle seine einzige Tochter zur Gemahlin haben.</p><lb/> <p>Nun lebten zwei Bruͤder in dem Lande, Soͤhne eines armen Mannes, die meldeten sich und wollten das Wagnis uͤbernehmen. Der aͤlteste, der listig und klug war, that es aus Hochmuth, der juͤngste, der unschuldig und dumm war, aus gutem Herzen. Der Koͤnig sagte ‘damit ihr desto sichrer das Thier findet, so sollt ihr von entgegengesetzten Seiten in den Wald gehen.’ Da gieng der aͤlteste von Abend und der juͤngste von Morgen hinein. Und als der juͤngste ein Weilchen gegangen war, so trat ein kleines Maͤnnlein zu ihm, das hielt einen schwarzen Spieß in der Hand, und sprach ‘diesen Spieß gebe ich dir, weil dein Herz unschuldig und gut ist, damit kannst du getrost auf das wilde Schwein eingehen, es wird dir keinen Schaden zufuͤgen.’ Er </p> </div> </body> </text> </TEI> [171/0204]
28.
Der singende Knochen.
Es war einmal in einem Lande große Klage uͤber ein Wildschwein, das den Bauern die Aecker umwuͤhlte, das Vieh toͤdtete, und den Menschen mit seinen Hauern den Leib aufriß. Der Koͤnig versprach einem jeden, der das Land von dieser Plage befreien wuͤrde, eine große Belohnung, aber das Thier war so groß und stark, daß sich niemand in die Naͤhe des Waldes wagte, worin es hauste. Endlich ließ der Koͤnig bekannt machen wer das Wildschwein einfange oder toͤdte, solle seine einzige Tochter zur Gemahlin haben.
Nun lebten zwei Bruͤder in dem Lande, Soͤhne eines armen Mannes, die meldeten sich und wollten das Wagnis uͤbernehmen. Der aͤlteste, der listig und klug war, that es aus Hochmuth, der juͤngste, der unschuldig und dumm war, aus gutem Herzen. Der Koͤnig sagte ‘damit ihr desto sichrer das Thier findet, so sollt ihr von entgegengesetzten Seiten in den Wald gehen.’ Da gieng der aͤlteste von Abend und der juͤngste von Morgen hinein. Und als der juͤngste ein Weilchen gegangen war, so trat ein kleines Maͤnnlein zu ihm, das hielt einen schwarzen Spieß in der Hand, und sprach ‘diesen Spieß gebe ich dir, weil dein Herz unschuldig und gut ist, damit kannst du getrost auf das wilde Schwein eingehen, es wird dir keinen Schaden zufuͤgen.’ Er
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