Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 1. Berlin, 1819.14.
Die drei Spinnerinnen. Es war ein Mädchen faul und wollte nicht spinnen, und die Mutter mogte sagen was sie wollte, sie konnte es nicht dazu bringen: endlich übernahm die Mutter einmal Zorn und Ungeduld, daß sie ihm Schläge gab, worüber es laut zu weinen anfing. Nun fuhr gerade die Königin vorbei und als sie das Weinen hörte, ließ sie anhalten, trat in das Haus und fragte die Mutter, warum sie ihre Tochter schlüge, daß man draußen das Weinen höre. Da schämte sich die Frau, daß sie die Faulheit ihrer Tochter sollte offenbaren und sprach: "ich kann sie nicht vom Spinnen abbringen, sie will immer und ewig spinnen und ich bin arm und kann den Flachs nicht herbeischaffen." "Ei, antwortete die Königin, ich hör nichts lieber als spinnen und bin nicht vergnügter als wenn die Räder schnurren; gebt mir eure Tochter mit ins Schloß, ich habe Flachs genug, da soll sie spinnen, so viel sie Lust hat." Die Mutter wars von Herzen gern zufrieden und die Königin nahm das Mädchen mit. Als sie ins Schloß gekommen waren, führte sie es hinauf zu drei Kammern, die lagen von unten bis oben voll vom schönsten Flachs. "Nun spinn mir diesen Flachs, sprach sie, und wenn du es fertig bringst, so sollst du meinen ältesten Sohn zum Gemahl haben; bist du gleich arm, so acht ich nicht darauf, dein unverdroßener Fleiß ist Ausstattung genug." Das Mädchen erschrack innerlich, denn es konnte den Flachs nicht spinnen und wärs dreihundert Jahr alt geworden und hätte jeden 14.
Die drei Spinnerinnen. Es war ein Maͤdchen faul und wollte nicht spinnen, und die Mutter mogte sagen was sie wollte, sie konnte es nicht dazu bringen: endlich uͤbernahm die Mutter einmal Zorn und Ungeduld, daß sie ihm Schlaͤge gab, woruͤber es laut zu weinen anfing. Nun fuhr gerade die Koͤnigin vorbei und als sie das Weinen hoͤrte, ließ sie anhalten, trat in das Haus und fragte die Mutter, warum sie ihre Tochter schluͤge, daß man draußen das Weinen hoͤre. Da schaͤmte sich die Frau, daß sie die Faulheit ihrer Tochter sollte offenbaren und sprach: „ich kann sie nicht vom Spinnen abbringen, sie will immer und ewig spinnen und ich bin arm und kann den Flachs nicht herbeischaffen.“ „Ei, antwortete die Koͤnigin, ich hoͤr nichts lieber als spinnen und bin nicht vergnuͤgter als wenn die Raͤder schnurren; gebt mir eure Tochter mit ins Schloß, ich habe Flachs genug, da soll sie spinnen, so viel sie Lust hat.“ Die Mutter wars von Herzen gern zufrieden und die Koͤnigin nahm das Maͤdchen mit. Als sie ins Schloß gekommen waren, fuͤhrte sie es hinauf zu drei Kammern, die lagen von unten bis oben voll vom schoͤnsten Flachs. „Nun spinn mir diesen Flachs, sprach sie, und wenn du es fertig bringst, so sollst du meinen aͤltesten Sohn zum Gemahl haben; bist du gleich arm, so acht ich nicht darauf, dein unverdroßener Fleiß ist Ausstattung genug.“ Das Maͤdchen erschrack innerlich, denn es konnte den Flachs nicht spinnen und waͤrs dreihundert Jahr alt geworden und haͤtte jeden <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0141" n="77"/> <div n="1"> <head> <hi rendition="#b">14.<lb/> Die drei Spinnerinnen.</hi> </head><lb/> <p>Es war ein Maͤdchen faul und wollte nicht spinnen, und die Mutter mogte sagen was sie wollte, sie konnte es nicht dazu bringen: endlich uͤbernahm die Mutter einmal Zorn und Ungeduld, daß sie ihm Schlaͤge gab, woruͤber es laut zu weinen anfing. Nun fuhr gerade die Koͤnigin vorbei und als sie das Weinen hoͤrte, ließ sie anhalten, trat in das Haus und fragte die Mutter, warum sie ihre Tochter schluͤge, daß man draußen das Weinen hoͤre. Da schaͤmte sich die Frau, daß sie die Faulheit ihrer Tochter sollte offenbaren und sprach: „ich kann sie nicht vom Spinnen abbringen, sie will immer und ewig spinnen und ich bin arm und kann den Flachs nicht herbeischaffen.“ „Ei, antwortete die Koͤnigin, ich hoͤr nichts lieber als spinnen und bin nicht vergnuͤgter als wenn die Raͤder schnurren; gebt mir eure Tochter mit ins Schloß, ich habe Flachs genug, da soll sie spinnen, so viel sie Lust hat.“ Die Mutter wars von Herzen gern zufrieden und die Koͤnigin nahm das Maͤdchen mit. Als sie ins Schloß gekommen waren, fuͤhrte sie es hinauf zu drei Kammern, die lagen von unten bis oben voll vom schoͤnsten Flachs. „Nun spinn mir diesen Flachs, sprach sie, und wenn du es fertig bringst, so sollst du meinen aͤltesten Sohn zum Gemahl haben; bist du gleich arm, so acht ich nicht darauf, dein unverdroßener Fleiß ist Ausstattung genug.“ Das Maͤdchen erschrack innerlich, denn es konnte den Flachs nicht spinnen und waͤrs dreihundert Jahr alt geworden und haͤtte jeden </p> </div> </body> </text> </TEI> [77/0141]
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Die drei Spinnerinnen.
Es war ein Maͤdchen faul und wollte nicht spinnen, und die Mutter mogte sagen was sie wollte, sie konnte es nicht dazu bringen: endlich uͤbernahm die Mutter einmal Zorn und Ungeduld, daß sie ihm Schlaͤge gab, woruͤber es laut zu weinen anfing. Nun fuhr gerade die Koͤnigin vorbei und als sie das Weinen hoͤrte, ließ sie anhalten, trat in das Haus und fragte die Mutter, warum sie ihre Tochter schluͤge, daß man draußen das Weinen hoͤre. Da schaͤmte sich die Frau, daß sie die Faulheit ihrer Tochter sollte offenbaren und sprach: „ich kann sie nicht vom Spinnen abbringen, sie will immer und ewig spinnen und ich bin arm und kann den Flachs nicht herbeischaffen.“ „Ei, antwortete die Koͤnigin, ich hoͤr nichts lieber als spinnen und bin nicht vergnuͤgter als wenn die Raͤder schnurren; gebt mir eure Tochter mit ins Schloß, ich habe Flachs genug, da soll sie spinnen, so viel sie Lust hat.“ Die Mutter wars von Herzen gern zufrieden und die Koͤnigin nahm das Maͤdchen mit. Als sie ins Schloß gekommen waren, fuͤhrte sie es hinauf zu drei Kammern, die lagen von unten bis oben voll vom schoͤnsten Flachs. „Nun spinn mir diesen Flachs, sprach sie, und wenn du es fertig bringst, so sollst du meinen aͤltesten Sohn zum Gemahl haben; bist du gleich arm, so acht ich nicht darauf, dein unverdroßener Fleiß ist Ausstattung genug.“ Das Maͤdchen erschrack innerlich, denn es konnte den Flachs nicht spinnen und waͤrs dreihundert Jahr alt geworden und haͤtte jeden
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Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12545-9) in Bd. 1, S. 7–27 ein aussagekräftiges Vorwort.
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