böse Schwiegermutter, wirft es ins Wasser, be- spritzt die kranke Königin mit Blut und giebt vor, sie habe ihr eigen Kind gefressen. So geht es noch zweimal, da soll die Unschuldige, die sich nicht vertheidigen kann, verbrannt werden. Schon steht sie in dem Feuer, da kommt der schwarze Wa- gen, die Jungfrau tritt heraus, sie geht in die Flammen, die sich gleich niederlegen und auslö- schen, hin zu der Königin, schlägt ihr auf den Mund und giebt ihr damit die Sprache wieder. Die drei andern Jungfrauen bringen die drei Kinder, aus dem Wasser gerettet; der Verrath kommt an den Tag, und die böse Schwiegermut- ter wird in ein Faß gethan, das ist mit Schlan- gen und giftigen Nattern ausgeschlagen und einen Berg herabgerollt.
Zum Wolf und den Geiserchen. No. 5.
muß auch, wenigstens sonst, in Frankreich seyn be- kannt gewesen. Lafontaine hat offenbar die 15te Fabel seines 4ten Buchs daraus gemacht, allein wie mager erzählt er sie; vielleicht hatte er auch bloß die frühere Bearbeitung Corrozets (le loup, la chevre et le chevreau) vor sich, wo sich gleich- falls die junge Ziege hütet und den Wolf gar nicht einläßt. Die Fabel ist aber viel älter, und steht u. a. bei Boner XXXIII., wo jedoch der Umstand mit der weißen Pfote, dessen schon La- fontaine nebenbei gedenkt, fehlt. Dagegen erinnern wir uns eines Bruchstückes aus dem vollständi- gen französischen Kindermärchen. Der Wolf geht zum Müller, reicht ihm die graue Pfote hin und spricht:
"meunier, meunier trempe moi ma patte dans ta farine blanche!" non non, non non! -- "alors je te man- ge!"
da thut es der Müller aus Furcht. -- Auch Psa- mathe die Nereide sandte den Wolf auf Peleus und Telamons Heerden, der Wolf fraß sie insge- sammt und wurde dann versteinert, wie ihm hier Steine eingenäht werden. Doch liegt die Sage
boͤſe Schwiegermutter, wirft es ins Waſſer, be- ſpritzt die kranke Koͤnigin mit Blut und giebt vor, ſie habe ihr eigen Kind gefreſſen. So geht es noch zweimal, da ſoll die Unſchuldige, die ſich nicht vertheidigen kann, verbrannt werden. Schon ſteht ſie in dem Feuer, da kommt der ſchwarze Wa- gen, die Jungfrau tritt heraus, ſie geht in die Flammen, die ſich gleich niederlegen und ausloͤ- ſchen, hin zu der Koͤnigin, ſchlaͤgt ihr auf den Mund und giebt ihr damit die Sprache wieder. Die drei andern Jungfrauen bringen die drei Kinder, aus dem Waſſer gerettet; der Verrath kommt an den Tag, und die boͤſe Schwiegermut- ter wird in ein Faß gethan, das iſt mit Schlan- gen und giftigen Nattern ausgeſchlagen und einen Berg herabgerollt.
Zum Wolf und den Geiſerchen. No. 5.
muß auch, wenigſtens ſonſt, in Frankreich ſeyn be- kannt geweſen. Lafontaine hat offenbar die 15te Fabel ſeines 4ten Buchs daraus gemacht, allein wie mager erzaͤhlt er ſie; vielleicht hatte er auch bloß die fruͤhere Bearbeitung Corrozets (le loup, la chevre et le chevreau) vor ſich, wo ſich gleich- falls die junge Ziege huͤtet und den Wolf gar nicht einlaͤßt. Die Fabel iſt aber viel aͤlter, und ſteht u. a. bei Boner XXXIII., wo jedoch der Umſtand mit der weißen Pfote, deſſen ſchon La- fontaine nebenbei gedenkt, fehlt. Dagegen erinnern wir uns eines Bruchſtuͤckes aus dem vollſtaͤndi- gen franzoͤſiſchen Kindermaͤrchen. Der Wolf geht zum Muͤller, reicht ihm die graue Pfote hin und ſpricht:
„meunier, meunier trempe moi ma patte dans ta farine blanche!“ non non, non non! — „alors je te man- ge!“
da thut es der Muͤller aus Furcht. — Auch Pſa- mathe die Nereide ſandte den Wolf auf Peleus und Telamons Heerden, der Wolf fraß ſie insge- ſammt und wurde dann verſteinert, wie ihm hier Steine eingenaͤht werden. Doch liegt die Sage
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0428"n="VI"/>
boͤſe Schwiegermutter, wirft es ins Waſſer, be-<lb/>ſpritzt die kranke Koͤnigin mit Blut und giebt<lb/>
vor, ſie habe ihr eigen Kind gefreſſen. So geht<lb/>
es noch zweimal, da ſoll die Unſchuldige, die ſich<lb/>
nicht vertheidigen kann, verbrannt werden. Schon<lb/>ſteht ſie in dem Feuer, da kommt der ſchwarze Wa-<lb/>
gen, die Jungfrau tritt heraus, ſie geht in die<lb/>
Flammen, die ſich gleich niederlegen und ausloͤ-<lb/>ſchen, hin zu der Koͤnigin, ſchlaͤgt ihr auf den<lb/>
Mund und giebt ihr damit die Sprache wieder.<lb/>
Die drei andern Jungfrauen bringen die drei<lb/>
Kinder, aus dem Waſſer gerettet; der Verrath<lb/>
kommt an den Tag, und die boͤſe Schwiegermut-<lb/>
ter wird in ein Faß gethan, das iſt mit Schlan-<lb/>
gen und giftigen Nattern ausgeſchlagen und einen<lb/>
Berg herabgerollt.</p></div><lb/><divn="2"><head>Zum Wolf und den Geiſerchen. No. 5.</head><lb/><p>muß auch, wenigſtens ſonſt, in Frankreich ſeyn be-<lb/>
kannt geweſen. Lafontaine hat offenbar die 15te<lb/>
Fabel ſeines 4ten Buchs daraus gemacht, allein<lb/>
wie mager erzaͤhlt er ſie; vielleicht hatte er auch<lb/>
bloß die fruͤhere Bearbeitung Corrozets (<hirendition="#aq">le loup,<lb/>
la chevre et le chevreau</hi>) vor ſich, wo ſich gleich-<lb/>
falls die junge Ziege huͤtet und den Wolf gar<lb/>
nicht einlaͤßt. Die Fabel iſt aber viel aͤlter, und<lb/>ſteht u. a. bei Boner <hirendition="#aq">XXXIII.</hi>, wo jedoch der<lb/>
Umſtand mit der weißen Pfote, deſſen ſchon La-<lb/>
fontaine nebenbei gedenkt, fehlt. Dagegen erinnern<lb/>
wir uns eines Bruchſtuͤckes aus dem vollſtaͤndi-<lb/>
gen franzoͤſiſchen Kindermaͤrchen. Der Wolf geht<lb/>
zum Muͤller, reicht ihm die graue Pfote hin und<lb/>ſpricht:<lb/><lgtype="poem"><l><hirendition="#aq">„meunier, meunier trempe moi ma patte</hi></l><lb/><l><hirendition="#aq">dans ta farine blanche!“</hi></l><lb/><l><hirendition="#aq">non non, non non! —„alors je te man-</hi></l><lb/><l><hirendition="#aq">ge!“</hi></l></lg><lb/>
da thut es der Muͤller aus Furcht. — Auch Pſa-<lb/>
mathe die Nereide ſandte den Wolf auf Peleus<lb/>
und Telamons Heerden, der Wolf fraß ſie insge-<lb/>ſammt und wurde dann verſteinert, wie ihm hier<lb/>
Steine eingenaͤht werden. Doch liegt die Sage<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[VI/0428]
boͤſe Schwiegermutter, wirft es ins Waſſer, be-
ſpritzt die kranke Koͤnigin mit Blut und giebt
vor, ſie habe ihr eigen Kind gefreſſen. So geht
es noch zweimal, da ſoll die Unſchuldige, die ſich
nicht vertheidigen kann, verbrannt werden. Schon
ſteht ſie in dem Feuer, da kommt der ſchwarze Wa-
gen, die Jungfrau tritt heraus, ſie geht in die
Flammen, die ſich gleich niederlegen und ausloͤ-
ſchen, hin zu der Koͤnigin, ſchlaͤgt ihr auf den
Mund und giebt ihr damit die Sprache wieder.
Die drei andern Jungfrauen bringen die drei
Kinder, aus dem Waſſer gerettet; der Verrath
kommt an den Tag, und die boͤſe Schwiegermut-
ter wird in ein Faß gethan, das iſt mit Schlan-
gen und giftigen Nattern ausgeſchlagen und einen
Berg herabgerollt.
Zum Wolf und den Geiſerchen. No. 5.
muß auch, wenigſtens ſonſt, in Frankreich ſeyn be-
kannt geweſen. Lafontaine hat offenbar die 15te
Fabel ſeines 4ten Buchs daraus gemacht, allein
wie mager erzaͤhlt er ſie; vielleicht hatte er auch
bloß die fruͤhere Bearbeitung Corrozets (le loup,
la chevre et le chevreau) vor ſich, wo ſich gleich-
falls die junge Ziege huͤtet und den Wolf gar
nicht einlaͤßt. Die Fabel iſt aber viel aͤlter, und
ſteht u. a. bei Boner XXXIII., wo jedoch der
Umſtand mit der weißen Pfote, deſſen ſchon La-
fontaine nebenbei gedenkt, fehlt. Dagegen erinnern
wir uns eines Bruchſtuͤckes aus dem vollſtaͤndi-
gen franzoͤſiſchen Kindermaͤrchen. Der Wolf geht
zum Muͤller, reicht ihm die graue Pfote hin und
ſpricht:
„meunier, meunier trempe moi ma patte
dans ta farine blanche!“
non non, non non! — „alors je te man-
ge!“
da thut es der Muͤller aus Furcht. — Auch Pſa-
mathe die Nereide ſandte den Wolf auf Peleus
und Telamons Heerden, der Wolf fraß ſie insge-
ſammt und wurde dann verſteinert, wie ihm hier
Steine eingenaͤht werden. Doch liegt die Sage
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. VI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/428>, abgerufen am 18.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.