Es war einmal eine kleine süße Dirn, die hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am al- lerliebsten aber ihre Großmutter, die wußte gar nicht, was sie alles dem Kind geben sollte. Ein- mal schenkte sie ihm ein Käppchen von rothem Sammet, und weil ihm das so wohl stand, und es nichts anders mehr tragen wollte, hieß es nur das Rothkäppchen; da sagte einmal seine Mutter zu ihm: "komm, Rothkäppchen, da hast du ein Stück Kuchen und ein Bouteille mit Wein, die bring der Großmutter hinaus, sie ist krank und schwach, da wird sie sich daran laben; sey hübsch artig und grüß sie von mir, geh auch ordentlich und lauf nicht vom Weg ab, sonst fällst du, und zerbrichst das Glas, dann hat die kranke Großmutter nichts."
Rothkäppchen versprach der Mutter recht gehorsam zu seyn. Die Großmutter aber wohn- te draußen im Wald, eine halbe Stunde vom Dorf. Wie nun Rothkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf, Rothkäppchen aber wußte nicht, was das für ein böses Thier war, und fürchtete sich nicht vor ihm. "Guten Tag, Rothkäppchen." -- "Schön Dank Wolf." -- "Wo willst du so früh hinaus, Rothkäpp- chen," -- "zur Großmutter." -- Was trägst
Kindermärchen, H
26. Rothkaͤppchen.
Es war einmal eine kleine ſuͤße Dirn, die hatte jedermann lieb, der ſie nur anſah, am al- lerliebſten aber ihre Großmutter, die wußte gar nicht, was ſie alles dem Kind geben ſollte. Ein- mal ſchenkte ſie ihm ein Kaͤppchen von rothem Sammet, und weil ihm das ſo wohl ſtand, und es nichts anders mehr tragen wollte, hieß es nur das Rothkaͤppchen; da ſagte einmal ſeine Mutter zu ihm: „komm, Rothkaͤppchen, da haſt du ein Stuͤck Kuchen und ein Bouteille mit Wein, die bring der Großmutter hinaus, ſie iſt krank und ſchwach, da wird ſie ſich daran laben; ſey huͤbſch artig und gruͤß ſie von mir, geh auch ordentlich und lauf nicht vom Weg ab, ſonſt faͤllſt du, und zerbrichſt das Glas, dann hat die kranke Großmutter nichts.“
Rothkaͤppchen verſprach der Mutter recht gehorſam zu ſeyn. Die Großmutter aber wohn- te draußen im Wald, eine halbe Stunde vom Dorf. Wie nun Rothkaͤppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf, Rothkaͤppchen aber wußte nicht, was das fuͤr ein boͤſes Thier war, und fuͤrchtete ſich nicht vor ihm. „Guten Tag, Rothkaͤppchen.“ — „Schoͤn Dank Wolf.“ — „Wo willſt du ſo fruͤh hinaus, Rothkaͤpp- chen,“ — „zur Großmutter.“ — Was traͤgſt
Kindermärchen, H
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26.
Rothkaͤppchen.
Es war einmal eine kleine ſuͤße Dirn, die
hatte jedermann lieb, der ſie nur anſah, am al-
lerliebſten aber ihre Großmutter, die wußte gar
nicht, was ſie alles dem Kind geben ſollte. Ein-
mal ſchenkte ſie ihm ein Kaͤppchen von rothem
Sammet, und weil ihm das ſo wohl ſtand, und
es nichts anders mehr tragen wollte, hieß es
nur das Rothkaͤppchen; da ſagte einmal ſeine
Mutter zu ihm: „komm, Rothkaͤppchen, da
haſt du ein Stuͤck Kuchen und ein Bouteille
mit Wein, die bring der Großmutter hinaus,
ſie iſt krank und ſchwach, da wird ſie ſich daran
laben; ſey huͤbſch artig und gruͤß ſie von mir,
geh auch ordentlich und lauf nicht vom Weg
ab, ſonſt faͤllſt du, und zerbrichſt das Glas,
dann hat die kranke Großmutter nichts.“
Rothkaͤppchen verſprach der Mutter recht
gehorſam zu ſeyn. Die Großmutter aber wohn-
te draußen im Wald, eine halbe Stunde vom
Dorf. Wie nun Rothkaͤppchen in den Wald
kam, begegnete ihm der Wolf, Rothkaͤppchen
aber wußte nicht, was das fuͤr ein boͤſes Thier
war, und fuͤrchtete ſich nicht vor ihm. „Guten
Tag, Rothkaͤppchen.“ — „Schoͤn Dank Wolf.“
— „Wo willſt du ſo fruͤh hinaus, Rothkaͤpp-
chen,“ — „zur Großmutter.“ — Was traͤgſt
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/147>, abgerufen am 18.11.2024.
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