ich dann die vor der Kammer fürchten?" Die vor der Kammer, als sie solche Wort vernom- men, nicht anderst flohen, oder als jagten sie tausend Teufel, und keiner wollt' seyn, der sich an den Schneider richten wollt', also blieb der Schneider sein Lebtag ein König.
II.
An einem Sommermorgen saß ein Schnei- derlein auf seinem Tisch vor dem Fenster, da kam eine Bauersfrau der Straße daher und rief: "gut Mus feil! gut Mus feil!" -- da streckte das Schneiderlein seinen Kopf zum Fen- ster hinaus und rief: "Hier herauf, liebe Frau, ihr macht einen guten Kauf." Als die Frau hinauf kam, besah es alle Töpfe, zuletzt kauft' es sich ein Viertelpfund. Darnach schnitt es ein Stück Brot über den ganzen Laib, schmierte das Mus darauf, legte es neben sich auf den Tisch und gedacht, du wirst gut schmecken, aber erst will ich das eine Camisol fertig machen, eh ich dich esse; fing an zu nähen und machte große Stiche vor Freuden. Indeß ging der Geruch von dem Mus auf und zu den Fliegen, da ka- men sie in Menge und setzten sich auf sein Mus- brot. "Wer hat euch zu Gast gebeten," sagte es und jagte sie fort; es dauerte aber nicht lan- ge, so kamen sie von neuem und ließen sich noch zahlreicher auf das Musbrot nieder. Mein Schnei-
ich dann die vor der Kammer fuͤrchten?“ Die vor der Kammer, als ſie ſolche Wort vernom- men, nicht anderſt flohen, oder als jagten ſie tauſend Teufel, und keiner wollt' ſeyn, der ſich an den Schneider richten wollt', alſo blieb der Schneider ſein Lebtag ein Koͤnig.
II.
An einem Sommermorgen ſaß ein Schnei- derlein auf ſeinem Tiſch vor dem Fenſter, da kam eine Bauersfrau der Straße daher und rief: „gut Mus feil! gut Mus feil!“ — da ſtreckte das Schneiderlein ſeinen Kopf zum Fen- ſter hinaus und rief: „Hier herauf, liebe Frau, ihr macht einen guten Kauf.“ Als die Frau hinauf kam, beſah es alle Toͤpfe, zuletzt kauft' es ſich ein Viertelpfund. Darnach ſchnitt es ein Stuͤck Brot uͤber den ganzen Laib, ſchmierte das Mus darauf, legte es neben ſich auf den Tiſch und gedacht, du wirſt gut ſchmecken, aber erſt will ich das eine Camiſol fertig machen, eh ich dich eſſe; fing an zu naͤhen und machte große Stiche vor Freuden. Indeß ging der Geruch von dem Mus auf und zu den Fliegen, da ka- men ſie in Menge und ſetzten ſich auf ſein Mus- brot. „Wer hat euch zu Gaſt gebeten,“ ſagte es und jagte ſie fort; es dauerte aber nicht lan- ge, ſo kamen ſie von neuem und ließen ſich noch zahlreicher auf das Musbrot nieder. Mein Schnei-
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ich dann die vor der Kammer fuͤrchten?“ Die
vor der Kammer, als ſie ſolche Wort vernom-
men, nicht anderſt flohen, oder als jagten ſie
tauſend Teufel, und keiner wollt' ſeyn, der ſich
an den Schneider richten wollt', alſo blieb der
Schneider ſein Lebtag ein Koͤnig.
II.
An einem Sommermorgen ſaß ein Schnei-
derlein auf ſeinem Tiſch vor dem Fenſter, da
kam eine Bauersfrau der Straße daher und
rief: „gut Mus feil! gut Mus feil!“ — da
ſtreckte das Schneiderlein ſeinen Kopf zum Fen-
ſter hinaus und rief: „Hier herauf, liebe Frau,
ihr macht einen guten Kauf.“ Als die Frau
hinauf kam, beſah es alle Toͤpfe, zuletzt kauft'
es ſich ein Viertelpfund. Darnach ſchnitt es ein
Stuͤck Brot uͤber den ganzen Laib, ſchmierte das
Mus darauf, legte es neben ſich auf den Tiſch
und gedacht, du wirſt gut ſchmecken, aber erſt
will ich das eine Camiſol fertig machen, eh ich
dich eſſe; fing an zu naͤhen und machte große
Stiche vor Freuden. Indeß ging der Geruch
von dem Mus auf und zu den Fliegen, da ka-
men ſie in Menge und ſetzten ſich auf ſein Mus-
brot. „Wer hat euch zu Gaſt gebeten,“ ſagte
es und jagte ſie fort; es dauerte aber nicht lan-
ge, ſo kamen ſie von neuem und ließen ſich noch
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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen01_1812/119>, abgerufen am 18.11.2024.
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