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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

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I. von den buchstaben insgemein.
Für die anordnung, vergleichung und auslegung der uns
oft nur in fehlerhaften, ungenauen abschriften überlie-
ferten runenalphabete wird noch manche dunkelheit zu
lösen bleiben, einiges aber von dem, was schon jetzo
klar erscheint *), bei den einzelnen buchstaben berührt
werden, in soweit es für die grammatik wichtig ist.
In dieser findet auch keine stelle was über die verschie-
dene bildung und änderung der durch das christenthum
eingeführten griechischen oder lateinischen schrift in der
diplomatik auseinandergesetzt werden muß. Einzelne
länder, einzelne jahrhunderte schreiben genauer als an-
dere, nach der richtung, die geistiger fortschritt und ge-
lehrsamkeit genommen haben. In ungünstigen zeiten
verschlimmern sich schrift und sprache. Zuweilen ist
auf die ursprüngliche niederschreibung oder vervielfälti-
gende abschrift einzelner werke ungewöhnliche, für die
geschichte der sprache ersprießliche sorgfalt gewendet
worden; ein beispiel liefern Notkers arbeiten zu S. Gal-
len. Aus dem system und den beobachteten zeichen
solcher werke kann die grammatik vieles lernen; allein
sie muß sogar weiter schreiten, wenn selbst durch diese
zeichen die der sprache wesentlichen, zum theil erst
durch historische sprachvergleichung erkennbar gewor-
denen laute und töne nicht genügend dargestellt werden
können. Noch viel mehr muß sie, unbekümmert um
die entstellten oder nachläßigen lesarten ungenauer und
schlechter handschriften, die regel der sprache nach ort
und zeit selbst ergründen und eine angemeßene schrei-
bung ein- und durchführen. Da sich aber die abwei-
chungen und eigenheiten der hss. nicht bloß auf fahr-
läßigkeit u. unwißenheit der abschreiber gründen, son-
dern zuweilen aus der besonderen mundart der verfaßer,
umarbeiter und schreiber fließen, so können freilich alle
solche besonderheiten an und für sich in der sprachge-
schichte lehrreich werden. Es versteht sich nur dabei
von selbst, daß die grammatik, so angelegen ihr die sorg-
fältige zergliederung einzelner mundarten seyn muß,
nicht in das familienleben und die unendlichkeit aller
und jeder idiome eingehen darf, sondern für perioden
u. landschaften allgemeineren, festeren regeln zu folgen
hat. Critischen herausgebern der bedeutenden schrift-

*) Ich weise auf eine in kurzem erscheinende abhandlung mei-
nes bruders Wilhelm über die runen.

I. von den buchſtaben insgemein.
Für die anordnung, vergleichung und auslegung der uns
oft nur in fehlerhaften, ungenauen abſchriften überlie-
ferten runenalphabete wird noch manche dunkelheit zu
löſen bleiben, einiges aber von dem, was ſchon jetzo
klar erſcheint *), bei den einzelnen buchſtaben berührt
werden, in soweit es für die grammatik wichtig iſt.
In dieſer findet auch keine ſtelle was über die verſchie-
dene bildung und änderung der durch das chriſtenthum
eingeführten griechiſchen oder lateiniſchen ſchrift in der
diplomatik auseinandergeſetzt werden muß. Einzelne
länder, einzelne jahrhunderte ſchreiben genauer als an-
dere, nach der richtung, die geiſtiger fortſchritt und ge-
lehrſamkeit genommen haben. In ungünſtigen zeiten
verſchlimmern ſich ſchrift und ſprache. Zuweilen iſt
auf die urſprüngliche niederſchreibung oder vervielfälti-
gende abſchrift einzelner werke ungewöhnliche, für die
geſchichte der ſprache erſprießliche ſorgfalt gewendet
worden; ein beiſpiel liefern Notkers arbeiten zu S. Gal-
len. Aus dem ſyſtem und den beobachteten zeichen
ſolcher werke kann die grammatik vieles lernen; allein
ſie muß ſogar weiter ſchreiten, wenn ſelbſt durch dieſe
zeichen die der ſprache weſentlichen, zum theil erſt
durch hiſtoriſche ſprachvergleichung erkennbar gewor-
denen laute und töne nicht genügend dargeſtellt werden
können. Noch viel mehr muß ſie, unbekümmert um
die entſtellten oder nachläßigen lesarten ungenauer und
ſchlechter handſchriften, die regel der ſprache nach ort
und zeit ſelbſt ergründen und eine angemeßene ſchrei-
bung ein- und durchführen. Da ſich aber die abwei-
chungen und eigenheiten der hſſ. nicht bloß auf fahr-
läßigkeit u. unwißenheit der abſchreiber gründen, ſon-
dern zuweilen aus der beſonderen mundart der verfaßer,
umarbeiter und ſchreiber fließen, ſo können freilich alle
ſolche beſonderheiten an und für ſich in der ſprachge-
ſchichte lehrreich werden. Es verſteht ſich nur dabei
von ſelbſt, daß die grammatik, ſo angelegen ihr die ſorg-
fältige zergliederung einzelner mundarten ſeyn muß,
nicht in das familienleben und die unendlichkeit aller
und jeder idiome eingehen darf, ſondern für perioden
u. landſchaften allgemeineren, feſteren regeln zu folgen
hat. Critiſchen herausgebern der bedeutenden ſchrift-

*) Ich weiſe auf eine in kurzem erſcheinende abhandlung mei-
nes bruders Wilhelm über die runen.
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[2/0028] I. von den buchſtaben insgemein. Für die anordnung, vergleichung und auslegung der uns oft nur in fehlerhaften, ungenauen abſchriften überlie- ferten runenalphabete wird noch manche dunkelheit zu löſen bleiben, einiges aber von dem, was ſchon jetzo klar erſcheint *), bei den einzelnen buchſtaben berührt werden, in soweit es für die grammatik wichtig iſt. In dieſer findet auch keine ſtelle was über die verſchie- dene bildung und änderung der durch das chriſtenthum eingeführten griechiſchen oder lateiniſchen ſchrift in der diplomatik auseinandergeſetzt werden muß. Einzelne länder, einzelne jahrhunderte ſchreiben genauer als an- dere, nach der richtung, die geiſtiger fortſchritt und ge- lehrſamkeit genommen haben. In ungünſtigen zeiten verſchlimmern ſich ſchrift und ſprache. Zuweilen iſt auf die urſprüngliche niederſchreibung oder vervielfälti- gende abſchrift einzelner werke ungewöhnliche, für die geſchichte der ſprache erſprießliche ſorgfalt gewendet worden; ein beiſpiel liefern Notkers arbeiten zu S. Gal- len. Aus dem ſyſtem und den beobachteten zeichen ſolcher werke kann die grammatik vieles lernen; allein ſie muß ſogar weiter ſchreiten, wenn ſelbſt durch dieſe zeichen die der ſprache weſentlichen, zum theil erſt durch hiſtoriſche ſprachvergleichung erkennbar gewor- denen laute und töne nicht genügend dargeſtellt werden können. Noch viel mehr muß ſie, unbekümmert um die entſtellten oder nachläßigen lesarten ungenauer und ſchlechter handſchriften, die regel der ſprache nach ort und zeit ſelbſt ergründen und eine angemeßene ſchrei- bung ein- und durchführen. Da ſich aber die abwei- chungen und eigenheiten der hſſ. nicht bloß auf fahr- läßigkeit u. unwißenheit der abſchreiber gründen, ſon- dern zuweilen aus der beſonderen mundart der verfaßer, umarbeiter und ſchreiber fließen, ſo können freilich alle ſolche beſonderheiten an und für ſich in der ſprachge- ſchichte lehrreich werden. Es verſteht ſich nur dabei von ſelbſt, daß die grammatik, ſo angelegen ihr die ſorg- fältige zergliederung einzelner mundarten ſeyn muß, nicht in das familienleben und die unendlichkeit aller und jeder idiome eingehen darf, ſondern für perioden u. landſchaften allgemeineren, feſteren regeln zu folgen hat. Critiſchen herausgebern der bedeutenden ſchrift- *) Ich weiſe auf eine in kurzem erſcheinende abhandlung mei- nes bruders Wilhelm über die runen.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/28>, abgerufen am 26.04.2024.