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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

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Vorrede.
denkmähler erwarten sollte. Sie finden noch immer wenig
bearbeiter und mehr bearbeiter, als theilnehmende
leser. Möchte die allmählig erleichterte vertrautere be-
kanntschaft mit der sprache auch zu der lieblichkeit und
unschuld und zu dem geiste führen, die in diesen poe-
sien walten. Die schlesischen, welche für väter der
neueren dichter gelten, stehen tief unter aller verglei-
chung mit jenen älteren, schmählich vergeßenen. Mir
wenigstens wiegt ein lied Walters (ja eine strophe wie
die s. 141b: o we war sint) einen ganzen band von Opiz
und Fleming auf, die sich selten mit freiem gefühl, in
unbeholfener sprache und befangen in steifer nachbil-
dung fremder muster aussprechen, so daß das ausgesuch-
teste einzelne kaum ohne misfälliges und hartes seyn
wird. Dort aber ist alle gefügigkeit reiner, deutscher
sprache, herzliche empfindung, überraschende feinheit
der wendungen und belebtheit des gedankens. Wie un-
erschöpflich zeigt sich Wolframs poesie im Parcifal und
Wilhelm, wie sanft und gemäßigt Hartmanns im Iwein,
gewis auch im Erek, wie zart gehalten Gotfrieds im
Tristan! Solche bücher zu lesen und verstehen zu
lernen faßen sich heutzutag wenige den muth, an Ita-
lienern und Spaniern verthun viele ihre kraft und ihre
zeit; sind dort die ersten schwierigkeiten größer, so
wird auch das weitere verständnis frommen, weil es
tiefer eingeht.

Die forderungen, welche man jetzo an einen her-
ausgeber mittelhochdeutscher gedichte zu machen hat,
sind nach und nach gesteigert und verständigt worden;
ich glaube, daß bald darüber kein zweifel mehr obwal-
ten wird. Sorglose auflagen nach schlechten handschrif-
ten und mit halber sprachkenntnis fruchten nichts; di-
plomatisch-ängstliches wiedergeben guter handschriften
reicht nicht aus und kann nur in seltnen fällen geboten
seyn. Wir fordern also critische ausgaben, keine will-
kürliche critik, eine durch grammatik, eigenthümlich-
keit des dichters und vergleichung der handschriften
geleitete. Es ist uns weniger zu thun um die schreib-
weise eines noch so ausgezeichneten copisten, als darum,
allerwärts die ächte lesart des gedichts zu haben und bis-
her kennt man wohl verschiedene handschriften mit vor-
züglich gutem texte, keine, die einen tadellosen lieferte.
Jene schreibweise mag an und für sich mancherlei auf-
klären, die einschwärzung fremder mundarten mag der
geschichte dieser mundarten willkommen, ja der offen-

Vorrede.
denkmähler erwarten ſollte. Sie finden noch immer wenig
bearbeiter und mehr bearbeiter, als theilnehmende
leſer. Möchte die allmählig erleichterte vertrautere be-
kanntſchaft mit der ſprache auch zu der lieblichkeit und
unſchuld und zu dem geiſte führen, die in dieſen poe-
ſien walten. Die ſchleſiſchen, welche für väter der
neueren dichter gelten, ſtehen tief unter aller verglei-
chung mit jenen älteren, ſchmählich vergeßenen. Mir
wenigſtens wiegt ein lied Walters (ja eine ſtrophe wie
die ſ. 141b: ô wê war ſint) einen ganzen band von Opiz
und Fleming auf, die ſich ſelten mit freiem gefühl, in
unbeholfener ſprache und befangen in ſteifer nachbil-
dung fremder muſter ausſprechen, ſo daß das ausgeſuch-
teſte einzelne kaum ohne misfälliges und hartes ſeyn
wird. Dort aber iſt alle gefügigkeit reiner, deutſcher
ſprache, herzliche empfindung, überraſchende feinheit
der wendungen und belebtheit des gedankens. Wie un-
erſchöpflich zeigt ſich Wolframs poeſie im Parcifal und
Wilhelm, wie ſanft und gemäßigt Hartmanns im Iwein,
gewis auch im Erek, wie zart gehalten Gotfrieds im
Triſtan! Solche bücher zu leſen und verſtehen zu
lernen faßen ſich heutzutag wenige den muth, an Ita-
lienern und Spaniern verthun viele ihre kraft und ihre
zeit; ſind dort die erſten ſchwierigkeiten größer, ſo
wird auch das weitere verſtändnis frommen, weil es
tiefer eingeht.

Die forderungen, welche man jetzo an einen her-
ausgeber mittelhochdeutſcher gedichte zu machen hat,
ſind nach und nach geſteigert und verſtändigt worden;
ich glaube, daß bald darüber kein zweifel mehr obwal-
ten wird. Sorgloſe auflagen nach ſchlechten handſchrif-
ten und mit halber ſprachkenntnis fruchten nichts; di-
plomatiſch-ängſtliches wiedergeben guter handſchriften
reicht nicht aus und kann nur in ſeltnen fällen geboten
ſeyn. Wir fordern alſo critiſche ausgaben, keine will-
kürliche critik, eine durch grammatik, eigenthümlich-
keit des dichters und vergleichung der handſchriften
geleitete. Es iſt uns weniger zu thun um die ſchreib-
weiſe eines noch ſo ausgezeichneten copiſten, als darum,
allerwärts die ächte lesart des gedichts zu haben und bis-
her kennt man wohl verſchiedene handſchriften mit vor-
züglich gutem texte, keine, die einen tadelloſen lieferte.
Jene ſchreibweiſe mag an und für ſich mancherlei auf-
klären, die einſchwärzung fremder mundarten mag der
geſchichte dieſer mundarten willkommen, ja der offen-

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[IX/0015] Vorrede. denkmähler erwarten ſollte. Sie finden noch immer wenig bearbeiter und mehr bearbeiter, als theilnehmende leſer. Möchte die allmählig erleichterte vertrautere be- kanntſchaft mit der ſprache auch zu der lieblichkeit und unſchuld und zu dem geiſte führen, die in dieſen poe- ſien walten. Die ſchleſiſchen, welche für väter der neueren dichter gelten, ſtehen tief unter aller verglei- chung mit jenen älteren, ſchmählich vergeßenen. Mir wenigſtens wiegt ein lied Walters (ja eine ſtrophe wie die ſ. 141b: ô wê war ſint) einen ganzen band von Opiz und Fleming auf, die ſich ſelten mit freiem gefühl, in unbeholfener ſprache und befangen in ſteifer nachbil- dung fremder muſter ausſprechen, ſo daß das ausgeſuch- teſte einzelne kaum ohne misfälliges und hartes ſeyn wird. Dort aber iſt alle gefügigkeit reiner, deutſcher ſprache, herzliche empfindung, überraſchende feinheit der wendungen und belebtheit des gedankens. Wie un- erſchöpflich zeigt ſich Wolframs poeſie im Parcifal und Wilhelm, wie ſanft und gemäßigt Hartmanns im Iwein, gewis auch im Erek, wie zart gehalten Gotfrieds im Triſtan! Solche bücher zu leſen und verſtehen zu lernen faßen ſich heutzutag wenige den muth, an Ita- lienern und Spaniern verthun viele ihre kraft und ihre zeit; ſind dort die erſten ſchwierigkeiten größer, ſo wird auch das weitere verſtändnis frommen, weil es tiefer eingeht. Die forderungen, welche man jetzo an einen her- ausgeber mittelhochdeutſcher gedichte zu machen hat, ſind nach und nach geſteigert und verſtändigt worden; ich glaube, daß bald darüber kein zweifel mehr obwal- ten wird. Sorgloſe auflagen nach ſchlechten handſchrif- ten und mit halber ſprachkenntnis fruchten nichts; di- plomatiſch-ängſtliches wiedergeben guter handſchriften reicht nicht aus und kann nur in ſeltnen fällen geboten ſeyn. Wir fordern alſo critiſche ausgaben, keine will- kürliche critik, eine durch grammatik, eigenthümlich- keit des dichters und vergleichung der handſchriften geleitete. Es iſt uns weniger zu thun um die ſchreib- weiſe eines noch ſo ausgezeichneten copiſten, als darum, allerwärts die ächte lesart des gedichts zu haben und bis- her kennt man wohl verſchiedene handſchriften mit vor- züglich gutem texte, keine, die einen tadelloſen lieferte. Jene ſchreibweiſe mag an und für ſich mancherlei auf- klären, die einſchwärzung fremder mundarten mag der geſchichte dieſer mundarten willkommen, ja der offen-

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. IX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/15>, abgerufen am 26.04.2024.