Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

Allgemeinheit und Partialität des Wahns.
Fast alle fixen Ideen sind in ihren letzten Anfängen Ausdrücke einer Beeinträch-
tigung oder einer Befriedigung der eigenen Gemüthsinteressen; desshalb führt
ihre isolirte Betrachtung, als ob sie die Hauptsache beim Irresein wären, immer
zu einer einseitigen und beschränkten Auffassung und ihr Verständniss wie ihre
ärztliche Bekämpfung kann sich im einzelnen Falle nur auf die Einsicht in die
ihrer Entstehung zu Grunde liegenden psychischen Zustände stützen.

§. 40.

Ob der Kranke nur einzelne wenige oder ob er sehr viele falsche
Urtheile preisgibt, ob sein Delirium nur ein partiales oder ein all-
gemeines
ist, diess ist bei der Auffassung seines Zustandes zu be-
achten und kann wenigstens einigen diagnostischen Werth haben, da
der erstere Fall häufiger bei Schwermüthigen und Verrückten, der
letztere bei Maniacis vorkommt. Allein eine Scheidung der Formen
nach der Partialität oder Allgemeinheit des Deliriums vornehmen zu
wollen, ist irrig. Vor Allem wäre es grundfalsch, an die Existenz
irrer Zustände zu glauben, bei denen der Kranke nur eine einzige
beschränkte fixe Idee haben, in allen übrigen Beziehungen aber völlig
geistesgesund sein soll. Wir werden unten sehen, dass auch in der
Form des Irreseins, wo noch am ehesten dieser Anschein entstehen
könnte, nämlich der partiellen Verrücktheit, immer eine tiefe innere
Zerrüttung der psychischen Individualität vorhanden ist. Sodann be-
steht die Partialität des Wahns ganz gewöhnlich durchaus nicht darin,
dass der Kranke nur eine einzige fixe Idee hat, sondern vielmehr
darin, dass er eine solche vorzugsweise immer wiederholt äussert.
Endlich sind diese Verhältnisse sehr unbeständig. Derselbe Kranke,
in derselben Form des Irreseins, kann nicht nur von einem Tage zum
andern seine Wahnideen wechseln, er kann auch heute in sehr vie-
len Beziehungen falsche Urtheile abgeben, während er vielleicht gestern
noch nur in Einer gewohnten Lieblingsvorstellung delirirte.

Die Aufstellung einer Classe der Monomanie *) (gegenüber der Manie), die
sich übrigens weniger auf das Vorhandensein einer einzelnen fixen Idee, als auf
das einseitige Herrschen eines gewissen Triebes (Mordmonomanie, Stehlmono-
manie etc.) bezog, hat mit Beiseitsetzung des wichtigsten Verhältnisses, nemlich
des psychischen Grundzustandes, nach äusseren Merkmalen Getrenntes vereinigt
und innerlich Zusammenhängendes getrennt und ist desshalb nicht zu billigen.

Das partielle Delirium, das Beherrschtsein von Einem Wahne, der zum Mittel-
punkte alles Denkens geworden ist, hat viele Analogie mit dem einseitigen Herrschen
eines Gedankenkreises beim Gesunden, bald mehr mit dem zähen Eingenommen-
sein für eine gewisse Theorie, die dem Menschen zur Sache der eigenen Persön-

*) Vgl. hierüber auch einige richtige Bemerkungen von Monti, Oestreich.
Jahrb. 1843. Octbr. p. 64.

Allgemeinheit und Partialität des Wahns.
Fast alle fixen Ideen sind in ihren letzten Anfängen Ausdrücke einer Beeinträch-
tigung oder einer Befriedigung der eigenen Gemüthsinteressen; desshalb führt
ihre isolirte Betrachtung, als ob sie die Hauptsache beim Irresein wären, immer
zu einer einseitigen und beschränkten Auffassung und ihr Verständniss wie ihre
ärztliche Bekämpfung kann sich im einzelnen Falle nur auf die Einsicht in die
ihrer Entstehung zu Grunde liegenden psychischen Zustände stützen.

§. 40.

Ob der Kranke nur einzelne wenige oder ob er sehr viele falsche
Urtheile preisgibt, ob sein Delirium nur ein partiales oder ein all-
gemeines
ist, diess ist bei der Auffassung seines Zustandes zu be-
achten und kann wenigstens einigen diagnostischen Werth haben, da
der erstere Fall häufiger bei Schwermüthigen und Verrückten, der
letztere bei Maniacis vorkommt. Allein eine Scheidung der Formen
nach der Partialität oder Allgemeinheit des Deliriums vornehmen zu
wollen, ist irrig. Vor Allem wäre es grundfalsch, an die Existenz
irrer Zustände zu glauben, bei denen der Kranke nur eine einzige
beschränkte fixe Idee haben, in allen übrigen Beziehungen aber völlig
geistesgesund sein soll. Wir werden unten sehen, dass auch in der
Form des Irreseins, wo noch am ehesten dieser Anschein entstehen
könnte, nämlich der partiellen Verrücktheit, immer eine tiefe innere
Zerrüttung der psychischen Individualität vorhanden ist. Sodann be-
steht die Partialität des Wahns ganz gewöhnlich durchaus nicht darin,
dass der Kranke nur eine einzige fixe Idee hat, sondern vielmehr
darin, dass er eine solche vorzugsweise immer wiederholt äussert.
Endlich sind diese Verhältnisse sehr unbeständig. Derselbe Kranke,
in derselben Form des Irreseins, kann nicht nur von einem Tage zum
andern seine Wahnideen wechseln, er kann auch heute in sehr vie-
len Beziehungen falsche Urtheile abgeben, während er vielleicht gestern
noch nur in Einer gewohnten Lieblingsvorstellung delirirte.

Die Aufstellung einer Classe der Monomanie *) (gegenüber der Manie), die
sich übrigens weniger auf das Vorhandensein einer einzelnen fixen Idee, als auf
das einseitige Herrschen eines gewissen Triebes (Mordmonomanie, Stehlmono-
manie etc.) bezog, hat mit Beiseitsetzung des wichtigsten Verhältnisses, nemlich
des psychischen Grundzustandes, nach äusseren Merkmalen Getrenntes vereinigt
und innerlich Zusammenhängendes getrennt und ist desshalb nicht zu billigen.

Das partielle Delirium, das Beherrschtsein von Einem Wahne, der zum Mittel-
punkte alles Denkens geworden ist, hat viele Analogie mit dem einseitigen Herrschen
eines Gedankenkreises beim Gesunden, bald mehr mit dem zähen Eingenommen-
sein für eine gewisse Theorie, die dem Menschen zur Sache der eigenen Persön-

*) Vgl. hierüber auch einige richtige Bemerkungen von Monti, Oestreich.
Jahrb. 1843. Octbr. p. 64.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0074" n="60"/><fw place="top" type="header">Allgemeinheit und Partialität des Wahns.</fw><lb/>
Fast alle fixen Ideen sind in ihren letzten Anfängen Ausdrücke einer Beeinträch-<lb/>
tigung oder einer Befriedigung der eigenen Gemüthsinteressen; desshalb führt<lb/>
ihre isolirte Betrachtung, als ob sie die Hauptsache beim Irresein wären, immer<lb/>
zu einer einseitigen und beschränkten Auffassung und ihr Verständniss wie ihre<lb/>
ärztliche Bekämpfung kann sich im einzelnen Falle nur auf die Einsicht in die<lb/>
ihrer Entstehung zu Grunde liegenden psychischen Zustände stützen.</p>
                </div><lb/>
                <div n="6">
                  <head>§. 40.</head><lb/>
                  <p>Ob der Kranke nur einzelne wenige oder ob er sehr viele falsche<lb/>
Urtheile preisgibt, ob sein Delirium nur ein <hi rendition="#g">partiales</hi> oder ein <hi rendition="#g">all-<lb/>
gemeines</hi> ist, diess ist bei der Auffassung seines Zustandes zu be-<lb/>
achten und kann wenigstens einigen diagnostischen Werth haben, da<lb/>
der erstere Fall häufiger bei Schwermüthigen und Verrückten, der<lb/>
letztere bei Maniacis vorkommt. Allein eine Scheidung der Formen<lb/>
nach der Partialität oder Allgemeinheit des Deliriums vornehmen zu<lb/>
wollen, ist irrig. Vor Allem wäre es grundfalsch, an die Existenz<lb/>
irrer Zustände zu glauben, bei denen der Kranke nur eine einzige<lb/>
beschränkte fixe Idee haben, in allen übrigen Beziehungen aber <hi rendition="#g">völlig</hi><lb/>
geistesgesund sein soll. Wir werden unten sehen, dass auch in der<lb/>
Form des Irreseins, wo noch am ehesten dieser Anschein entstehen<lb/>
könnte, nämlich der partiellen Verrücktheit, immer eine tiefe innere<lb/>
Zerrüttung der psychischen Individualität vorhanden ist. Sodann be-<lb/>
steht die Partialität des Wahns ganz gewöhnlich durchaus nicht darin,<lb/>
dass der Kranke nur eine einzige fixe Idee <hi rendition="#g">hat</hi>, sondern vielmehr<lb/>
darin, dass er eine solche vorzugsweise immer wiederholt <hi rendition="#g">äussert</hi>.<lb/>
Endlich sind diese Verhältnisse sehr unbeständig. Derselbe Kranke,<lb/>
in derselben Form des Irreseins, kann nicht nur von einem Tage zum<lb/>
andern seine Wahnideen wechseln, er kann auch heute in sehr vie-<lb/>
len Beziehungen falsche Urtheile abgeben, während er vielleicht gestern<lb/>
noch nur in Einer gewohnten Lieblingsvorstellung delirirte.</p><lb/>
                  <p>Die Aufstellung einer Classe der <hi rendition="#g">Monomanie</hi> <note place="foot" n="*)">Vgl. hierüber auch einige richtige Bemerkungen von <hi rendition="#g">Monti</hi>, Oestreich.<lb/>
Jahrb. 1843. Octbr. p. 64.</note> (gegenüber der Manie), die<lb/>
sich übrigens weniger auf das Vorhandensein einer einzelnen fixen Idee, als auf<lb/>
das einseitige Herrschen eines gewissen Triebes (Mordmonomanie, Stehlmono-<lb/>
manie etc.) bezog, hat mit Beiseitsetzung des wichtigsten Verhältnisses, nemlich<lb/>
des psychischen Grundzustandes, nach äusseren Merkmalen Getrenntes vereinigt<lb/>
und innerlich Zusammenhängendes getrennt und ist desshalb nicht zu billigen.</p><lb/>
                  <p>Das partielle Delirium, das Beherrschtsein von Einem Wahne, der zum Mittel-<lb/>
punkte alles Denkens geworden ist, hat viele Analogie mit dem einseitigen Herrschen<lb/>
eines Gedankenkreises beim Gesunden, bald mehr mit dem zähen Eingenommen-<lb/>
sein für eine gewisse Theorie, die dem Menschen zur Sache der eigenen Persön-<lb/></p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[60/0074] Allgemeinheit und Partialität des Wahns. Fast alle fixen Ideen sind in ihren letzten Anfängen Ausdrücke einer Beeinträch- tigung oder einer Befriedigung der eigenen Gemüthsinteressen; desshalb führt ihre isolirte Betrachtung, als ob sie die Hauptsache beim Irresein wären, immer zu einer einseitigen und beschränkten Auffassung und ihr Verständniss wie ihre ärztliche Bekämpfung kann sich im einzelnen Falle nur auf die Einsicht in die ihrer Entstehung zu Grunde liegenden psychischen Zustände stützen. §. 40. Ob der Kranke nur einzelne wenige oder ob er sehr viele falsche Urtheile preisgibt, ob sein Delirium nur ein partiales oder ein all- gemeines ist, diess ist bei der Auffassung seines Zustandes zu be- achten und kann wenigstens einigen diagnostischen Werth haben, da der erstere Fall häufiger bei Schwermüthigen und Verrückten, der letztere bei Maniacis vorkommt. Allein eine Scheidung der Formen nach der Partialität oder Allgemeinheit des Deliriums vornehmen zu wollen, ist irrig. Vor Allem wäre es grundfalsch, an die Existenz irrer Zustände zu glauben, bei denen der Kranke nur eine einzige beschränkte fixe Idee haben, in allen übrigen Beziehungen aber völlig geistesgesund sein soll. Wir werden unten sehen, dass auch in der Form des Irreseins, wo noch am ehesten dieser Anschein entstehen könnte, nämlich der partiellen Verrücktheit, immer eine tiefe innere Zerrüttung der psychischen Individualität vorhanden ist. Sodann be- steht die Partialität des Wahns ganz gewöhnlich durchaus nicht darin, dass der Kranke nur eine einzige fixe Idee hat, sondern vielmehr darin, dass er eine solche vorzugsweise immer wiederholt äussert. Endlich sind diese Verhältnisse sehr unbeständig. Derselbe Kranke, in derselben Form des Irreseins, kann nicht nur von einem Tage zum andern seine Wahnideen wechseln, er kann auch heute in sehr vie- len Beziehungen falsche Urtheile abgeben, während er vielleicht gestern noch nur in Einer gewohnten Lieblingsvorstellung delirirte. Die Aufstellung einer Classe der Monomanie *) (gegenüber der Manie), die sich übrigens weniger auf das Vorhandensein einer einzelnen fixen Idee, als auf das einseitige Herrschen eines gewissen Triebes (Mordmonomanie, Stehlmono- manie etc.) bezog, hat mit Beiseitsetzung des wichtigsten Verhältnisses, nemlich des psychischen Grundzustandes, nach äusseren Merkmalen Getrenntes vereinigt und innerlich Zusammenhängendes getrennt und ist desshalb nicht zu billigen. Das partielle Delirium, das Beherrschtsein von Einem Wahne, der zum Mittel- punkte alles Denkens geworden ist, hat viele Analogie mit dem einseitigen Herrschen eines Gedankenkreises beim Gesunden, bald mehr mit dem zähen Eingenommen- sein für eine gewisse Theorie, die dem Menschen zur Sache der eigenen Persön- *) Vgl. hierüber auch einige richtige Bemerkungen von Monti, Oestreich. Jahrb. 1843. Octbr. p. 64.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/74
Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/74>, abgerufen am 21.12.2024.