Mit dem Auftreten all dieser verschiedenen Gemüthsanomalieen hat sich dann gewöhnlich das Verhalten des Individuums zur Aussenwelt, sein ganzer Cha- racter, es haben sich seine Neigungen und Geschmacksrichtungen total verändert. Der Sanfte kann wild, der Geizige verschwenderisch, der Sittsame obscön, der Bescheidene eitel und hochmüthig erscheinen etc. Die Umwandlung des Characters ist gewöhnlich in den Anfangsperioden des Irreseins das auffallendste Zeichen und gewöhnlich stellt sich das Irresein nur in dem Falle einer sehr langsamen, all- mähligen Entstehung als die bloss excessive Steigerung der natürlichen Character- Eigenschaften des Menschen dar. Man darf desshalb aus den Gemüths-Eigenthüm- lichkeiten des Kranken auf seinen früheren Character nur mit grösster Vorsicht schliessen; exquisite Bosheit und Tücke z. B. kann bei sonst gutgearteten, wohl- wollenden Menschen Jahre lang während der Dauer der Krankheit anhalten und mit der Genesung schnell und spurlos dem alten Character wieder weichen.
B. Anomalieen des Denkens.
§. 37.
Wir können auf dem Gebiete des deutlichen Vorstellens, des Urtheilens und Schliessens zur leichteren Uebersicht zweierlei Ab- normitäten unterscheiden, einmal ein krankhaftes Verhalten des Vor- stellens in formaler Beziehung, sodann eine Abnormität der Vor- stellungen in Bezug auf ihren (falschen) Inhalt. Beide Verhältnisse hängen aufs innigste zusammen, in der Weise, dass gewisse formale Abweichungen, z. B. ein allzurascher Ablauf, eine zu grosse Lang- samkeit im Vorstellen, schon durch die Gefühle, von denen sie noth- wendig begleitet sind, wieder einzelne Grundinhalte der Vorstellungen an die Hand geben oder begünstigen, z. B. die mässige Steigerung des Vorstellens, wo die Combinationen mit erhöhter Leichtigkeit von statten gehen, ist sehr häufig von falschen Urtheilen, die sich aus dem Gefühle geistiger Freiheit und geistigen Wohlseins ergeben, begleitet.*)
a. Formale Abweichungen.
Zu grosse Langsamkeit des Denkens rührt entweder von einer Unterdrückung durch heftigen psychischen Schmerz, der das Bewusstsein ganz füllt und nichts Anderes neben sich aufkommen lässt, oder von wirklicher Schwäche, namentlich von dem Verluste des Gedächtnisses her. In beiden Fällen, so verschieden sie ihrem inneren Grunde nach sind, beobachtet man Armuth und Einförmigkeit im Vorstellen; der Zug der Gedanken scheint mitunter stille zu stehen, einzelne Worte, Redensarten, Bewegungen, die Stunden lang wieder- holt werden, zeigen das Beharren einzelner Vorstellungen; oft ist ein Stocken der Rede, eine grosse Unsicherheit in der Verknüpfung der
*) Vgl. des Verf. Neue Beiträge zur Pathologie des Gehirns. Archiv für physiolog. Heilkunde. III. 1. 1844. p. 95.
Formell anomales Denken.
Mit dem Auftreten all dieser verschiedenen Gemüthsanomalieen hat sich dann gewöhnlich das Verhalten des Individuums zur Aussenwelt, sein ganzer Cha- racter, es haben sich seine Neigungen und Geschmacksrichtungen total verändert. Der Sanfte kann wild, der Geizige verschwenderisch, der Sittsame obscön, der Bescheidene eitel und hochmüthig erscheinen etc. Die Umwandlung des Characters ist gewöhnlich in den Anfangsperioden des Irreseins das auffallendste Zeichen und gewöhnlich stellt sich das Irresein nur in dem Falle einer sehr langsamen, all- mähligen Entstehung als die bloss excessive Steigerung der natürlichen Character- Eigenschaften des Menschen dar. Man darf desshalb aus den Gemüths-Eigenthüm- lichkeiten des Kranken auf seinen früheren Character nur mit grösster Vorsicht schliessen; exquisite Bosheit und Tücke z. B. kann bei sonst gutgearteten, wohl- wollenden Menschen Jahre lang während der Dauer der Krankheit anhalten und mit der Genesung schnell und spurlos dem alten Character wieder weichen.
B. Anomalieen des Denkens.
§. 37.
Wir können auf dem Gebiete des deutlichen Vorstellens, des Urtheilens und Schliessens zur leichteren Uebersicht zweierlei Ab- normitäten unterscheiden, einmal ein krankhaftes Verhalten des Vor- stellens in formaler Beziehung, sodann eine Abnormität der Vor- stellungen in Bezug auf ihren (falschen) Inhalt. Beide Verhältnisse hängen aufs innigste zusammen, in der Weise, dass gewisse formale Abweichungen, z. B. ein allzurascher Ablauf, eine zu grosse Lang- samkeit im Vorstellen, schon durch die Gefühle, von denen sie noth- wendig begleitet sind, wieder einzelne Grundinhalte der Vorstellungen an die Hand geben oder begünstigen, z. B. die mässige Steigerung des Vorstellens, wo die Combinationen mit erhöhter Leichtigkeit von statten gehen, ist sehr häufig von falschen Urtheilen, die sich aus dem Gefühle geistiger Freiheit und geistigen Wohlseins ergeben, begleitet.*)
a. Formale Abweichungen.
Zu grosse Langsamkeit des Denkens rührt entweder von einer Unterdrückung durch heftigen psychischen Schmerz, der das Bewusstsein ganz füllt und nichts Anderes neben sich aufkommen lässt, oder von wirklicher Schwäche, namentlich von dem Verluste des Gedächtnisses her. In beiden Fällen, so verschieden sie ihrem inneren Grunde nach sind, beobachtet man Armuth und Einförmigkeit im Vorstellen; der Zug der Gedanken scheint mitunter stille zu stehen, einzelne Worte, Redensarten, Bewegungen, die Stunden lang wieder- holt werden, zeigen das Beharren einzelner Vorstellungen; oft ist ein Stocken der Rede, eine grosse Unsicherheit in der Verknüpfung der
*) Vgl. des Verf. Neue Beiträge zur Pathologie des Gehirns. Archiv für physiolog. Heilkunde. III. 1. 1844. p. 95.
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Mit dem Auftreten all dieser verschiedenen Gemüthsanomalieen hat sich dann
gewöhnlich das Verhalten des Individuums zur Aussenwelt, sein ganzer Cha-
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Der Sanfte kann wild, der Geizige verschwenderisch, der Sittsame obscön, der
Bescheidene eitel und hochmüthig erscheinen etc. Die Umwandlung des Characters
ist gewöhnlich in den Anfangsperioden des Irreseins das auffallendste Zeichen und
gewöhnlich stellt sich das Irresein nur in dem Falle einer sehr langsamen, all-
mähligen Entstehung als die bloss excessive Steigerung der natürlichen Character-
Eigenschaften des Menschen dar. Man darf desshalb aus den Gemüths-Eigenthüm-
lichkeiten des Kranken auf seinen früheren Character nur mit grösster Vorsicht
schliessen; exquisite Bosheit und Tücke z. B. kann bei sonst gutgearteten, wohl-
wollenden Menschen Jahre lang während der Dauer der Krankheit anhalten und
mit der Genesung schnell und spurlos dem alten Character wieder weichen.
B. Anomalieen des Denkens.
§. 37.
Wir können auf dem Gebiete des deutlichen Vorstellens, des
Urtheilens und Schliessens zur leichteren Uebersicht zweierlei Ab-
normitäten unterscheiden, einmal ein krankhaftes Verhalten des Vor-
stellens in formaler Beziehung, sodann eine Abnormität der Vor-
stellungen in Bezug auf ihren (falschen) Inhalt. Beide Verhältnisse
hängen aufs innigste zusammen, in der Weise, dass gewisse formale
Abweichungen, z. B. ein allzurascher Ablauf, eine zu grosse Lang-
samkeit im Vorstellen, schon durch die Gefühle, von denen sie noth-
wendig begleitet sind, wieder einzelne Grundinhalte der Vorstellungen
an die Hand geben oder begünstigen, z. B. die mässige Steigerung
des Vorstellens, wo die Combinationen mit erhöhter Leichtigkeit von
statten gehen, ist sehr häufig von falschen Urtheilen, die sich aus dem
Gefühle geistiger Freiheit und geistigen Wohlseins ergeben, begleitet. *)
a. Formale Abweichungen.
Zu grosse Langsamkeit des Denkens rührt entweder von
einer Unterdrückung durch heftigen psychischen Schmerz, der das
Bewusstsein ganz füllt und nichts Anderes neben sich aufkommen
lässt, oder von wirklicher Schwäche, namentlich von dem Verluste
des Gedächtnisses her. In beiden Fällen, so verschieden sie ihrem
inneren Grunde nach sind, beobachtet man Armuth und Einförmigkeit
im Vorstellen; der Zug der Gedanken scheint mitunter stille zu stehen,
einzelne Worte, Redensarten, Bewegungen, die Stunden lang wieder-
holt werden, zeigen das Beharren einzelner Vorstellungen; oft ist ein
Stocken der Rede, eine grosse Unsicherheit in der Verknüpfung der
*) Vgl. des Verf. Neue Beiträge zur Pathologie des Gehirns. Archiv für
physiolog. Heilkunde. III. 1. 1844. p. 95.
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/69>, abgerufen am 27.07.2024.
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