Denn es ist ein weiterer Erfahrungssatz, dass, wenn durch die organischen Processe, das Athmen, die Verdauung etc., die psychi- sche Gehirnthätigkeit influencirt wird, diess zunächst nicht auf dem Gebiete des klaren Vorstellens, nicht dadurch geschieht, dass wir neue Gedanken bekommen, sondern vielmehr so, dass zuerst dunkle Veränderungen der Selbstempfindung und Stimmung, dunkle Urtheile über das Gefördert- oder Gehemmtsein unserer psychischen Thätig- keit überhaupt in uns entstehen und damit ein wesentliches Element affectartiger Zustände uns aufgedrungen wird. (§. 17.)
Beispiele hiefür finden sich fast in allen Krankheiten. Bei Herzkranken sehen wir sehr häufig Angst, bei Genitalienaffectionen Traurigkeit, bei Krankheiten des Darms, bei icterischer Blutveränderung mürrische, ängstliche, ärgerliche Laune, Trägheit des Denkens, allgemeine Verstimmung etc. eintreten; das Gefühl körperlichen Wohlseins oder körperlicher Krankheit ist überhaupt vom grössten Einflusse darauf, ob unsre Stimmung muthig und heiter oder niedergeschlagen und traurig ist. Wirken nun äussere Ursachen Affect-erregend auf uns ein, so kommt ausserordentlich viel auf diesen schon vorhandenen, habituell oder vorüber- gehend durch die organischen Zustände erregten Gehirnzustand an, ob der Affect haftet oder nicht. Bei schon durch körperliche Krankheit Verstimmten haftet ein äusserlich erregter trauriger Affect weit eher und hat weit nachhaltigere Folgen, als wenn er in einem Menschen entsteht, der sich eben des besten kör- perlichen Wohlgefühls und heiterer Stimmung erfreut hatte.
Diese Verhältnisse geben einige der wichtigsten Grundlagen der Pathogenie des Irreseins. Es liegt in ihnen der Schlüssel zum Verständniss der Prädispo- sition zu Geisteskrankheiten durch die allerverschiedensten körperlichen Er- krankungen und der Wirkungsweise der psychischen Ursachen. Diese erzeugen nemlich (S. das zweite Buch) das Irresein seltener direct, häufiger secundär, durch Vermittlung anderer Störungen, z. B. in der Weise, dass durch lange dauernden Gram der kleine Kreislauf eine Modification erleidet, in Folge deren dann Hyperämie des Gehirns entsteht und diese nun bei dem prädisponirten Individuum zur nächsten Ursache seines Irreseins wird. Es ist eben das Ge- schäft der Pathogenie, die Mechanik dieser Vorgänge nach erfahrungsmässigen Daten auseinanderzulegen.
§. 31.
In den Affecten ist keine ruhige Ueberlegung möglich. Indem das Ich selbst in Schwankung und Erschütterung gerathen ist, behält es nicht die nöthige Ruhe, um die Vorgänge im Bewusstsein mit völliger Hingebung und Aufmerksamkeit zu vernehmen. Den Zu- stand aber, wo solches Vernehmen möglich ist und wirklich statt- findet, nennt man die Vernunft. Zu diesem Vernehmen, und eben desshalb zur Ueberlegung, ist gegenseitige Bestimmbarkeit der Vor- stellungen, Verweilen und Aufschub, Sammlung und Erwägung erforder- lich; den contrastirenden Vorstellungen (§. 23.) muss die Möglichkeit
Die Vernunft und ihre Störung.
Denn es ist ein weiterer Erfahrungssatz, dass, wenn durch die organischen Processe, das Athmen, die Verdauung etc., die psychi- sche Gehirnthätigkeit influencirt wird, diess zunächst nicht auf dem Gebiete des klaren Vorstellens, nicht dadurch geschieht, dass wir neue Gedanken bekommen, sondern vielmehr so, dass zuerst dunkle Veränderungen der Selbstempfindung und Stimmung, dunkle Urtheile über das Gefördert- oder Gehemmtsein unserer psychischen Thätig- keit überhaupt in uns entstehen und damit ein wesentliches Element affectartiger Zustände uns aufgedrungen wird. (§. 17.)
Beispiele hiefür finden sich fast in allen Krankheiten. Bei Herzkranken sehen wir sehr häufig Angst, bei Genitalienaffectionen Traurigkeit, bei Krankheiten des Darms, bei icterischer Blutveränderung mürrische, ängstliche, ärgerliche Laune, Trägheit des Denkens, allgemeine Verstimmung etc. eintreten; das Gefühl körperlichen Wohlseins oder körperlicher Krankheit ist überhaupt vom grössten Einflusse darauf, ob unsre Stimmung muthig und heiter oder niedergeschlagen und traurig ist. Wirken nun äussere Ursachen Affect-erregend auf uns ein, so kommt ausserordentlich viel auf diesen schon vorhandenen, habituell oder vorüber- gehend durch die organischen Zustände erregten Gehirnzustand an, ob der Affect haftet oder nicht. Bei schon durch körperliche Krankheit Verstimmten haftet ein äusserlich erregter trauriger Affect weit eher und hat weit nachhaltigere Folgen, als wenn er in einem Menschen entsteht, der sich eben des besten kör- perlichen Wohlgefühls und heiterer Stimmung erfreut hatte.
Diese Verhältnisse geben einige der wichtigsten Grundlagen der Pathogenie des Irreseins. Es liegt in ihnen der Schlüssel zum Verständniss der Prädispo- sition zu Geisteskrankheiten durch die allerverschiedensten körperlichen Er- krankungen und der Wirkungsweise der psychischen Ursachen. Diese erzeugen nemlich (S. das zweite Buch) das Irresein seltener direct, häufiger secundär, durch Vermittlung anderer Störungen, z. B. in der Weise, dass durch lange dauernden Gram der kleine Kreislauf eine Modification erleidet, in Folge deren dann Hyperämie des Gehirns entsteht und diese nun bei dem prädisponirten Individuum zur nächsten Ursache seines Irreseins wird. Es ist eben das Ge- schäft der Pathogenie, die Mechanik dieser Vorgänge nach erfahrungsmässigen Daten auseinanderzulegen.
§. 31.
In den Affecten ist keine ruhige Ueberlegung möglich. Indem das Ich selbst in Schwankung und Erschütterung gerathen ist, behält es nicht die nöthige Ruhe, um die Vorgänge im Bewusstsein mit völliger Hingebung und Aufmerksamkeit zu vernehmen. Den Zu- stand aber, wo solches Vernehmen möglich ist und wirklich statt- findet, nennt man die Vernunft. Zu diesem Vernehmen, und eben desshalb zur Ueberlegung, ist gegenseitige Bestimmbarkeit der Vor- stellungen, Verweilen und Aufschub, Sammlung und Erwägung erforder- lich; den contrastirenden Vorstellungen (§. 23.) muss die Möglichkeit
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Die Vernunft und ihre Störung.
Denn es ist ein weiterer Erfahrungssatz, dass, wenn durch die
organischen Processe, das Athmen, die Verdauung etc., die psychi-
sche Gehirnthätigkeit influencirt wird, diess zunächst nicht auf dem
Gebiete des klaren Vorstellens, nicht dadurch geschieht, dass wir
neue Gedanken bekommen, sondern vielmehr so, dass zuerst dunkle
Veränderungen der Selbstempfindung und Stimmung, dunkle Urtheile
über das Gefördert- oder Gehemmtsein unserer psychischen Thätig-
keit überhaupt in uns entstehen und damit ein wesentliches Element
affectartiger Zustände uns aufgedrungen wird. (§. 17.)
Beispiele hiefür finden sich fast in allen Krankheiten. Bei Herzkranken sehen
wir sehr häufig Angst, bei Genitalienaffectionen Traurigkeit, bei Krankheiten
des Darms, bei icterischer Blutveränderung mürrische, ängstliche, ärgerliche
Laune, Trägheit des Denkens, allgemeine Verstimmung etc. eintreten; das Gefühl
körperlichen Wohlseins oder körperlicher Krankheit ist überhaupt vom grössten
Einflusse darauf, ob unsre Stimmung muthig und heiter oder niedergeschlagen
und traurig ist. Wirken nun äussere Ursachen Affect-erregend auf uns ein, so
kommt ausserordentlich viel auf diesen schon vorhandenen, habituell oder vorüber-
gehend durch die organischen Zustände erregten Gehirnzustand an, ob der Affect
haftet oder nicht. Bei schon durch körperliche Krankheit Verstimmten haftet
ein äusserlich erregter trauriger Affect weit eher und hat weit nachhaltigere
Folgen, als wenn er in einem Menschen entsteht, der sich eben des besten kör-
perlichen Wohlgefühls und heiterer Stimmung erfreut hatte.
Diese Verhältnisse geben einige der wichtigsten Grundlagen der Pathogenie
des Irreseins. Es liegt in ihnen der Schlüssel zum Verständniss der Prädispo-
sition zu Geisteskrankheiten durch die allerverschiedensten körperlichen Er-
krankungen und der Wirkungsweise der psychischen Ursachen. Diese
erzeugen nemlich (S. das zweite Buch) das Irresein seltener direct, häufiger
secundär, durch Vermittlung anderer Störungen, z. B. in der Weise, dass durch
lange dauernden Gram der kleine Kreislauf eine Modification erleidet, in Folge
deren dann Hyperämie des Gehirns entsteht und diese nun bei dem prädisponirten
Individuum zur nächsten Ursache seines Irreseins wird. Es ist eben das Ge-
schäft der Pathogenie, die Mechanik dieser Vorgänge nach erfahrungsmässigen
Daten auseinanderzulegen.
§. 31.
In den Affecten ist keine ruhige Ueberlegung möglich. Indem
das Ich selbst in Schwankung und Erschütterung gerathen ist, behält
es nicht die nöthige Ruhe, um die Vorgänge im Bewusstsein mit
völliger Hingebung und Aufmerksamkeit zu vernehmen. Den Zu-
stand aber, wo solches Vernehmen möglich ist und wirklich statt-
findet, nennt man die Vernunft. Zu diesem Vernehmen, und eben
desshalb zur Ueberlegung, ist gegenseitige Bestimmbarkeit der Vor-
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lich; den contrastirenden Vorstellungen (§. 23.) muss die Möglichkeit
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/61>, abgerufen am 21.11.2024.
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