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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Die Metamorphosen des Ich.
Selbstbildung, nicht nur solche gemeinsame feste Grundrichtungen zu
gewinnen, sondern sie allmählig so viel als möglich durch Denken ins
Bewusstsein zu erheben und so in den festen Besitz solcher, der indi-
viduellen Natur adäquater, durchdachter Obersätze alles Denkens und
Wollens zu gelangen.

Unser Ich ist zu verschiedenen Zeiten ein sehr verschiedenes, je nachdem
Alter, verschiedene Lebenspflichten, Erlebnisse, momentane Erregungen diese oder
jene, dann eben das Ich repräsentirende Vorstellungsmasse mehr entwickelt und
in den Vordergrund gedrängt haben. Wir sind "ein Anderer und doch derselbe."
Mein Ich als Arzt, mein Ich als Gelehrter, mein sinnliches Ich, mein moralisches
Ich etc. d. h. die Complexe von Vorstellungen, Trieben und Willensrichtungen,
die durch jene Worte bezeichnet werden, können mit einander in Widerspruch
gerathen und der eine zu verschiedenen Zeiten die andern zurückdrängen. Nicht
nur Inconsequenz und Zerfahrenheit des Vorstellens und Wollens, sondern auch --
wegen des beständigen hemmenden Widerspruchs aller übrigen -- völlige Energie-
losigkeit auf jeder einzelnen dieser Seiten müsste die Folge sein, wenn nicht
einige wenige, dunklere oder bewusstere Grundrichtungen auf allen diesen Ge-
bieten wiederkehrten.

Eines der deutlichsten und für die Verhältnisse bei Geisteskrankheiten in-
structivsten Beispiele einer Erneuerung und Umgestaltung des Ich geben die
psychischen Ereignisse während der Pubertätsentwicklung. Mit dem Activwerden
bisher ruhender Körpertheile und mit der gänzlichen organischen Revolution in
diesem Lebensalter treten in verhältnissmässig kurzer Zeit grosse Massen neuer
Empfindungen, Triebe, dunklerer oder deutlicher Vorstellungen und Willensimpulse
ins Bewusstsein. Diese durchdringen allmählig die alten Vorstellungskreise und
werden zu constituirenden Bestandtheilen des Ich; dieses wird ebendamit ein
ganz anderes, neues, und die Selbstempfindung erleidet eine durchgreifende Meta-
morphose. Aber freilich, bis es zu dieser Assimilation gekommen ist, kann
diese Durchdringung und Zersetzung des alten Ich kaum ohne mancherlei Drang
im Bewusstsein und ohne tumultuarische Erschütterung desselben, d. h. nicht ohne
mancherlei Gemüthsbewegungen vor sich gehen. Desshalb ist jene Lebensepoche
ganz vorzüglich die Zeit innerlich entspringender, äusserlich unmotivirter Ge-
müthsbewegungen.

§. 26.

Nicht umsonst haben wir dieses Beispiel gewählt, das mit viel-
fachen Analogieen das Irresein schön erläutert. Bei diesem nämlich
entwickeln sich gewöhnlich, gleichfalls von innen heraus, mit der
eintretenden Gehirnkrankheit Massen neuer, dem Individuum bisher
in dieser Weise fremd gewesener Empfindungen, Triebe und Vor-
stellungen (z. B. grosse Angstempfindungen, daran geknüpft die Vor-
stellungen eines begangenen Verbrechens, der Verfolgung). Anfangs
stehen diese dem alten Ich als ein fremdes, oft Staunen und
Schrecken erregendes Du gegenüber. Oft wird ihr Eindringen in die
alten Vorstellungskreise als Inbesitznahme des alten Ich von einer

Die Metamorphosen des Ich.
Selbstbildung, nicht nur solche gemeinsame feste Grundrichtungen zu
gewinnen, sondern sie allmählig so viel als möglich durch Denken ins
Bewusstsein zu erheben und so in den festen Besitz solcher, der indi-
viduellen Natur adäquater, durchdachter Obersätze alles Denkens und
Wollens zu gelangen.

Unser Ich ist zu verschiedenen Zeiten ein sehr verschiedenes, je nachdem
Alter, verschiedene Lebenspflichten, Erlebnisse, momentane Erregungen diese oder
jene, dann eben das Ich repräsentirende Vorstellungsmasse mehr entwickelt und
in den Vordergrund gedrängt haben. Wir sind „ein Anderer und doch derselbe.“
Mein Ich als Arzt, mein Ich als Gelehrter, mein sinnliches Ich, mein moralisches
Ich etc. d. h. die Complexe von Vorstellungen, Trieben und Willensrichtungen,
die durch jene Worte bezeichnet werden, können mit einander in Widerspruch
gerathen und der eine zu verschiedenen Zeiten die andern zurückdrängen. Nicht
nur Inconsequenz und Zerfahrenheit des Vorstellens und Wollens, sondern auch —
wegen des beständigen hemmenden Widerspruchs aller übrigen — völlige Energie-
losigkeit auf jeder einzelnen dieser Seiten müsste die Folge sein, wenn nicht
einige wenige, dunklere oder bewusstere Grundrichtungen auf allen diesen Ge-
bieten wiederkehrten.

Eines der deutlichsten und für die Verhältnisse bei Geisteskrankheiten in-
structivsten Beispiele einer Erneuerung und Umgestaltung des Ich geben die
psychischen Ereignisse während der Pubertätsentwicklung. Mit dem Activwerden
bisher ruhender Körpertheile und mit der gänzlichen organischen Revolution in
diesem Lebensalter treten in verhältnissmässig kurzer Zeit grosse Massen neuer
Empfindungen, Triebe, dunklerer oder deutlicher Vorstellungen und Willensimpulse
ins Bewusstsein. Diese durchdringen allmählig die alten Vorstellungskreise und
werden zu constituirenden Bestandtheilen des Ich; dieses wird ebendamit ein
ganz anderes, neues, und die Selbstempfindung erleidet eine durchgreifende Meta-
morphose. Aber freilich, bis es zu dieser Assimilation gekommen ist, kann
diese Durchdringung und Zersetzung des alten Ich kaum ohne mancherlei Drang
im Bewusstsein und ohne tumultuarische Erschütterung desselben, d. h. nicht ohne
mancherlei Gemüthsbewegungen vor sich gehen. Desshalb ist jene Lebensepoche
ganz vorzüglich die Zeit innerlich entspringender, äusserlich unmotivirter Ge-
müthsbewegungen.

§. 26.

Nicht umsonst haben wir dieses Beispiel gewählt, das mit viel-
fachen Analogieen das Irresein schön erläutert. Bei diesem nämlich
entwickeln sich gewöhnlich, gleichfalls von innen heraus, mit der
eintretenden Gehirnkrankheit Massen neuer, dem Individuum bisher
in dieser Weise fremd gewesener Empfindungen, Triebe und Vor-
stellungen (z. B. grosse Angstempfindungen, daran geknüpft die Vor-
stellungen eines begangenen Verbrechens, der Verfolgung). Anfangs
stehen diese dem alten Ich als ein fremdes, oft Staunen und
Schrecken erregendes Du gegenüber. Oft wird ihr Eindringen in die
alten Vorstellungskreise als Inbesitznahme des alten Ich von einer

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[39/0053] Die Metamorphosen des Ich. Selbstbildung, nicht nur solche gemeinsame feste Grundrichtungen zu gewinnen, sondern sie allmählig so viel als möglich durch Denken ins Bewusstsein zu erheben und so in den festen Besitz solcher, der indi- viduellen Natur adäquater, durchdachter Obersätze alles Denkens und Wollens zu gelangen. Unser Ich ist zu verschiedenen Zeiten ein sehr verschiedenes, je nachdem Alter, verschiedene Lebenspflichten, Erlebnisse, momentane Erregungen diese oder jene, dann eben das Ich repräsentirende Vorstellungsmasse mehr entwickelt und in den Vordergrund gedrängt haben. Wir sind „ein Anderer und doch derselbe.“ Mein Ich als Arzt, mein Ich als Gelehrter, mein sinnliches Ich, mein moralisches Ich etc. d. h. die Complexe von Vorstellungen, Trieben und Willensrichtungen, die durch jene Worte bezeichnet werden, können mit einander in Widerspruch gerathen und der eine zu verschiedenen Zeiten die andern zurückdrängen. Nicht nur Inconsequenz und Zerfahrenheit des Vorstellens und Wollens, sondern auch — wegen des beständigen hemmenden Widerspruchs aller übrigen — völlige Energie- losigkeit auf jeder einzelnen dieser Seiten müsste die Folge sein, wenn nicht einige wenige, dunklere oder bewusstere Grundrichtungen auf allen diesen Ge- bieten wiederkehrten. Eines der deutlichsten und für die Verhältnisse bei Geisteskrankheiten in- structivsten Beispiele einer Erneuerung und Umgestaltung des Ich geben die psychischen Ereignisse während der Pubertätsentwicklung. Mit dem Activwerden bisher ruhender Körpertheile und mit der gänzlichen organischen Revolution in diesem Lebensalter treten in verhältnissmässig kurzer Zeit grosse Massen neuer Empfindungen, Triebe, dunklerer oder deutlicher Vorstellungen und Willensimpulse ins Bewusstsein. Diese durchdringen allmählig die alten Vorstellungskreise und werden zu constituirenden Bestandtheilen des Ich; dieses wird ebendamit ein ganz anderes, neues, und die Selbstempfindung erleidet eine durchgreifende Meta- morphose. Aber freilich, bis es zu dieser Assimilation gekommen ist, kann diese Durchdringung und Zersetzung des alten Ich kaum ohne mancherlei Drang im Bewusstsein und ohne tumultuarische Erschütterung desselben, d. h. nicht ohne mancherlei Gemüthsbewegungen vor sich gehen. Desshalb ist jene Lebensepoche ganz vorzüglich die Zeit innerlich entspringender, äusserlich unmotivirter Ge- müthsbewegungen. §. 26. Nicht umsonst haben wir dieses Beispiel gewählt, das mit viel- fachen Analogieen das Irresein schön erläutert. Bei diesem nämlich entwickeln sich gewöhnlich, gleichfalls von innen heraus, mit der eintretenden Gehirnkrankheit Massen neuer, dem Individuum bisher in dieser Weise fremd gewesener Empfindungen, Triebe und Vor- stellungen (z. B. grosse Angstempfindungen, daran geknüpft die Vor- stellungen eines begangenen Verbrechens, der Verfolgung). Anfangs stehen diese dem alten Ich als ein fremdes, oft Staunen und Schrecken erregendes Du gegenüber. Oft wird ihr Eindringen in die alten Vorstellungskreise als Inbesitznahme des alten Ich von einer

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/53>, abgerufen am 03.12.2024.