Wie in manchen acuten, besonders aber in den meisten chro- nischen Rückenmarksaffectionen Bäder mit Vortheil gebraucht werden, so auch bei vielen unserer Gehirnkrankheiten. Seltener, namentlich bei jüngeren Individuen weiblichen Geschlechts, bei Hysterischen sind die kalten Bäder indicirt; von allgemeinster und nützlichster Anwen- dung dagegen sind die lauen Bäder sowohl in den älteren, als namentlich in den frischen Fällen; ausser ihrer reinigenden und er- frischenden Wirkung kommt ihnen, wie es scheint, ebenso durch die gleichförmige mässige Erregung aller Hautnerven, als durch die Ver- langsamung und Regulirung der Respiration und des Herzschlags ein ausgezeichneter beruhigender Effect in diesen Krankheiten zu. Oft führen sie allein den lange vermissten Schlaf herbei, oft scheinen sie die Fixirung der Gehirnhyperämie zu verhindern, und da sich die Kranken meist gerne zu diesem Mittel verstehen, so dürfte sich gegen seinen Gebrauch -- ausser Phthisis, und namentlich ausser der be- ginnenden oder schon bestehenden allgemeinen Paralyse -- kaum irgend eine Contraindication ergeben. Nach Umständen sind Zusätze von Schwefel, Eisen, aromatischen Pflanzen und dergl. passend. Fuss- bäder endlich unterstützen in manchen Fällen das vom Kopfe ablei- tende Verfahren.
Von der methodischen Anwendung des kalten Wassers in der Art der soge- nannten Hydrotherapie halten wir nur das reichliche Wassertrinken, namentlich in den Exaltationszuständen für einigermassen nützlich. Auch die Hypochondrie wird bei Priessnitzischer Methode vielleicht zuweilen momentan gebessert; weit häufiger scheint sie durch so heftige, meistens unbesonnen instituirte Curen verschlimmert zu werden.
§. 169.
Auch die Hautreize und sogenannten Ableitungsmittel werden häufig am unrechten Orte gebraucht. Die Vesicatore sind in den gewöhnlichen Fällen unnütz, auf den Kopf selbst gesetzt vermehren sie häufig die Irritation; bei Melancholisch-Stumpfsinnigen dagegen können sie oft, am besten im Nacken, mit Erfolg angewandt werden (Resorption eines Gehirnödems?). Bei sexueller Reizung und bei Onanisten sind sie immer zu vermeiden. -- Auch die Salben und Pflaster von Tartarus emeticus, von Einzelnen in der übertriebensten Weise, bis zur Necrosirung der Schädelknochen gebraucht, findet eine vortheilhafte Anwendung gleichfalls nur in einzelnen melancho- lischen Formen. Auch sie werden im Nacken oder an noch ent- fernteren Stellen applicirt, und dürfen nur bis zu mässiger Eiterung
Bäder und Hautreize.
Wie in manchen acuten, besonders aber in den meisten chro- nischen Rückenmarksaffectionen Bäder mit Vortheil gebraucht werden, so auch bei vielen unserer Gehirnkrankheiten. Seltener, namentlich bei jüngeren Individuen weiblichen Geschlechts, bei Hysterischen sind die kalten Bäder indicirt; von allgemeinster und nützlichster Anwen- dung dagegen sind die lauen Bäder sowohl in den älteren, als namentlich in den frischen Fällen; ausser ihrer reinigenden und er- frischenden Wirkung kommt ihnen, wie es scheint, ebenso durch die gleichförmige mässige Erregung aller Hautnerven, als durch die Ver- langsamung und Regulirung der Respiration und des Herzschlags ein ausgezeichneter beruhigender Effect in diesen Krankheiten zu. Oft führen sie allein den lange vermissten Schlaf herbei, oft scheinen sie die Fixirung der Gehirnhyperämie zu verhindern, und da sich die Kranken meist gerne zu diesem Mittel verstehen, so dürfte sich gegen seinen Gebrauch — ausser Phthisis, und namentlich ausser der be- ginnenden oder schon bestehenden allgemeinen Paralyse — kaum irgend eine Contraindication ergeben. Nach Umständen sind Zusätze von Schwefel, Eisen, aromatischen Pflanzen und dergl. passend. Fuss- bäder endlich unterstützen in manchen Fällen das vom Kopfe ablei- tende Verfahren.
Von der methodischen Anwendung des kalten Wassers in der Art der soge- nannten Hydrotherapie halten wir nur das reichliche Wassertrinken, namentlich in den Exaltationszuständen für einigermassen nützlich. Auch die Hypochondrie wird bei Priessnitzischer Methode vielleicht zuweilen momentan gebessert; weit häufiger scheint sie durch so heftige, meistens unbesonnen instituirte Curen verschlimmert zu werden.
§. 169.
Auch die Hautreize und sogenannten Ableitungsmittel werden häufig am unrechten Orte gebraucht. Die Vesicatore sind in den gewöhnlichen Fällen unnütz, auf den Kopf selbst gesetzt vermehren sie häufig die Irritation; bei Melancholisch-Stumpfsinnigen dagegen können sie oft, am besten im Nacken, mit Erfolg angewandt werden (Resorption eines Gehirnödems?). Bei sexueller Reizung und bei Onanisten sind sie immer zu vermeiden. — Auch die Salben und Pflaster von Tartarus emeticus, von Einzelnen in der übertriebensten Weise, bis zur Necrosirung der Schädelknochen gebraucht, findet eine vortheilhafte Anwendung gleichfalls nur in einzelnen melancho- lischen Formen. Auch sie werden im Nacken oder an noch ent- fernteren Stellen applicirt, und dürfen nur bis zu mässiger Eiterung
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><pbfacs="#f0370"n="356"/><fwplace="top"type="header">Bäder und Hautreize.</fw><lb/><p>Wie in manchen acuten, besonders aber in den meisten chro-<lb/>
nischen Rückenmarksaffectionen Bäder mit Vortheil gebraucht werden,<lb/>
so auch bei vielen unserer Gehirnkrankheiten. Seltener, namentlich<lb/>
bei jüngeren Individuen weiblichen Geschlechts, bei Hysterischen sind<lb/>
die kalten Bäder indicirt; von allgemeinster und nützlichster Anwen-<lb/>
dung dagegen sind die <hirendition="#g">lauen Bäder</hi> sowohl in den älteren, als<lb/>
namentlich in den frischen Fällen; ausser ihrer reinigenden und er-<lb/>
frischenden Wirkung kommt ihnen, wie es scheint, ebenso durch die<lb/>
gleichförmige mässige Erregung aller Hautnerven, als durch die Ver-<lb/>
langsamung und Regulirung der Respiration und des Herzschlags ein<lb/>
ausgezeichneter beruhigender Effect in diesen Krankheiten zu. Oft<lb/>
führen sie allein den lange vermissten Schlaf herbei, oft scheinen sie<lb/>
die Fixirung der Gehirnhyperämie zu verhindern, und da sich die<lb/>
Kranken meist gerne zu diesem Mittel verstehen, so dürfte sich gegen<lb/>
seinen Gebrauch — ausser Phthisis, und namentlich ausser der be-<lb/>
ginnenden oder schon bestehenden allgemeinen Paralyse — kaum<lb/>
irgend eine Contraindication ergeben. Nach Umständen sind Zusätze<lb/>
von Schwefel, Eisen, aromatischen Pflanzen und dergl. passend. Fuss-<lb/>
bäder endlich unterstützen in manchen Fällen das vom Kopfe ablei-<lb/>
tende Verfahren.</p><lb/><p>Von der methodischen Anwendung des kalten Wassers in der Art der soge-<lb/>
nannten Hydrotherapie halten wir nur das reichliche Wassertrinken, namentlich<lb/>
in den Exaltationszuständen für einigermassen nützlich. Auch die Hypochondrie<lb/>
wird bei Priessnitzischer Methode vielleicht zuweilen momentan gebessert; weit<lb/>
häufiger scheint sie durch so heftige, meistens unbesonnen instituirte Curen<lb/>
verschlimmert zu werden.</p></div><lb/><divn="4"><head>§. 169.</head><lb/><p>Auch die <hirendition="#g">Hautreize</hi> und sogenannten Ableitungsmittel werden<lb/>
häufig am unrechten Orte gebraucht. Die Vesicatore sind in den<lb/>
gewöhnlichen Fällen unnütz, auf den Kopf selbst gesetzt vermehren<lb/>
sie häufig die Irritation; bei Melancholisch-Stumpfsinnigen dagegen<lb/>
können sie oft, am besten im Nacken, mit Erfolg angewandt werden<lb/>
(Resorption eines Gehirnödems?). Bei sexueller Reizung und bei<lb/>
Onanisten sind sie immer zu vermeiden. — Auch die Salben und<lb/>
Pflaster von Tartarus emeticus, von Einzelnen in der übertriebensten<lb/>
Weise, bis zur Necrosirung der Schädelknochen gebraucht, findet<lb/>
eine vortheilhafte Anwendung gleichfalls nur in einzelnen melancho-<lb/>
lischen Formen. Auch sie werden im Nacken oder an noch ent-<lb/>
fernteren Stellen applicirt, und dürfen nur bis zu mässiger Eiterung<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[356/0370]
Bäder und Hautreize.
Wie in manchen acuten, besonders aber in den meisten chro-
nischen Rückenmarksaffectionen Bäder mit Vortheil gebraucht werden,
so auch bei vielen unserer Gehirnkrankheiten. Seltener, namentlich
bei jüngeren Individuen weiblichen Geschlechts, bei Hysterischen sind
die kalten Bäder indicirt; von allgemeinster und nützlichster Anwen-
dung dagegen sind die lauen Bäder sowohl in den älteren, als
namentlich in den frischen Fällen; ausser ihrer reinigenden und er-
frischenden Wirkung kommt ihnen, wie es scheint, ebenso durch die
gleichförmige mässige Erregung aller Hautnerven, als durch die Ver-
langsamung und Regulirung der Respiration und des Herzschlags ein
ausgezeichneter beruhigender Effect in diesen Krankheiten zu. Oft
führen sie allein den lange vermissten Schlaf herbei, oft scheinen sie
die Fixirung der Gehirnhyperämie zu verhindern, und da sich die
Kranken meist gerne zu diesem Mittel verstehen, so dürfte sich gegen
seinen Gebrauch — ausser Phthisis, und namentlich ausser der be-
ginnenden oder schon bestehenden allgemeinen Paralyse — kaum
irgend eine Contraindication ergeben. Nach Umständen sind Zusätze
von Schwefel, Eisen, aromatischen Pflanzen und dergl. passend. Fuss-
bäder endlich unterstützen in manchen Fällen das vom Kopfe ablei-
tende Verfahren.
Von der methodischen Anwendung des kalten Wassers in der Art der soge-
nannten Hydrotherapie halten wir nur das reichliche Wassertrinken, namentlich
in den Exaltationszuständen für einigermassen nützlich. Auch die Hypochondrie
wird bei Priessnitzischer Methode vielleicht zuweilen momentan gebessert; weit
häufiger scheint sie durch so heftige, meistens unbesonnen instituirte Curen
verschlimmert zu werden.
§. 169.
Auch die Hautreize und sogenannten Ableitungsmittel werden
häufig am unrechten Orte gebraucht. Die Vesicatore sind in den
gewöhnlichen Fällen unnütz, auf den Kopf selbst gesetzt vermehren
sie häufig die Irritation; bei Melancholisch-Stumpfsinnigen dagegen
können sie oft, am besten im Nacken, mit Erfolg angewandt werden
(Resorption eines Gehirnödems?). Bei sexueller Reizung und bei
Onanisten sind sie immer zu vermeiden. — Auch die Salben und
Pflaster von Tartarus emeticus, von Einzelnen in der übertriebensten
Weise, bis zur Necrosirung der Schädelknochen gebraucht, findet
eine vortheilhafte Anwendung gleichfalls nur in einzelnen melancho-
lischen Formen. Auch sie werden im Nacken oder an noch ent-
fernteren Stellen applicirt, und dürfen nur bis zu mässiger Eiterung
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/370>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.