die Wirkung auf die Organe, z. B. die Erosion der Magenschleimhaut durch grosse Gaben Tartarus emeticus keineswegs ausbleibt; nur in wenigen Fällen braucht man ungewöhnlich hohe Gaben von einzelnen Mitteln, namentlich Purganzen und Narcoticis; da hierin grosse indi- viduelle Verschiedenheiten vorkommen und sich der Erfolg nicht a priori schätzen lässt, so müssen immer zuerst mässige Gaben ver- sucht, und von diesen -- allerdings zuweilen rasch -- der Uebergang zu den stärkeren gemacht werden.
Im Allgemeinen ist eine active somatische Behandlung weit nothwendiger in den frischen, als in den alten verschleppten Zuständen von Irresein. Die letzteren Fälle, wo so häufig das leibliche Befinden gar keine Störung zeigt, geben dann weder bestimmtere Indicationen zu Arzneimitteln, noch hat sich deren empirische versuchsweise Anwendung nur im Geringsten nützlich gezeigt. Doch gibt es Fälle, wo es auch ohne alle rationelle Indicationen vortheilhaft ist, dem Kranken Arzneien, natürlich nur durchaus indifferenter Art, zu verabreichen, um ihm zu zeigen, dass er wirklich als krank betrachtet wird, um seine Hoffnung zu er- halten und ihm eine stete ärztliche Fürsorge zu beweisen. Hier dienen die Arzneien als psychische Mittel; so z. B. bei sehr misstrauischen Kranken, welche die Irrenanstalt für ein Staatsgefängniss, einen Ort für Verbrecher und dergleichen erklären, hei Hypochondristen etc. -- Unter den Mitteln der somatischen Therapie sollen im Folgenden nicht alle aufgeführt werden, welche überhaupt einmal in- dicirt sein können, sondern nur diejenigen, welche mit directem Bezuge auf die Gehirnkrankheit theils sich entschieden nützlich zeigen, theils der Art der Symp- tome nach als besonders indicirt erscheinen könnten.
§. 167.
Die Anwendung der Blutentziehungen, zu denen von jeher theils apriorische Entzündungstheorieen, theils pathologischanatomische Resultate, theils die oft so stürmischen Symptome an sich schon hin- geleitet haben, ist von der neueren Zeit bedeutend beschränkt worden und Jedermann ist darüber einig, dass die Indication des Aderlasses nicht aus dem Delirium an sich oder irgend einer Form desselben, sei es auch die activste, aufgeregteste, wüthendste, entnommen werden darf. Zustände von allgemeinem Sinken der Ernährung und von Anämie, nicht nur nach Blutverlusten, sexuellen Excessen etc., sondern ebenso häufig auch nach lange dauernden psychischen Schmerzzu- ständen gehören ja häufig zu den ätiologischen Momenten des Irreseins, namentlich auch in der Form der Tobsucht. Diese Fälle, und ihnen zunächst sich anschliessend die aus habitueller Trunksucht entstandenen, contraindiciren die Aderlässe. Werden solche hier dennoch angestellt, so folgt ihnen gewöhnlich alsbald eine Steigerung aller Symptome; namentlich bricht hier gerne bei bisher noch Schwermüthigen die
Griesinger, psych. Krankhtn. 23
Blutentziehungen. Aderlass.
die Wirkung auf die Organe, z. B. die Erosion der Magenschleimhaut durch grosse Gaben Tartarus emeticus keineswegs ausbleibt; nur in wenigen Fällen braucht man ungewöhnlich hohe Gaben von einzelnen Mitteln, namentlich Purganzen und Narcoticis; da hierin grosse indi- viduelle Verschiedenheiten vorkommen und sich der Erfolg nicht a priori schätzen lässt, so müssen immer zuerst mässige Gaben ver- sucht, und von diesen — allerdings zuweilen rasch — der Uebergang zu den stärkeren gemacht werden.
Im Allgemeinen ist eine active somatische Behandlung weit nothwendiger in den frischen, als in den alten verschleppten Zuständen von Irresein. Die letzteren Fälle, wo so häufig das leibliche Befinden gar keine Störung zeigt, geben dann weder bestimmtere Indicationen zu Arzneimitteln, noch hat sich deren empirische versuchsweise Anwendung nur im Geringsten nützlich gezeigt. Doch gibt es Fälle, wo es auch ohne alle rationelle Indicationen vortheilhaft ist, dem Kranken Arzneien, natürlich nur durchaus indifferenter Art, zu verabreichen, um ihm zu zeigen, dass er wirklich als krank betrachtet wird, um seine Hoffnung zu er- halten und ihm eine stete ärztliche Fürsorge zu beweisen. Hier dienen die Arzneien als psychische Mittel; so z. B. bei sehr misstrauischen Kranken, welche die Irrenanstalt für ein Staatsgefängniss, einen Ort für Verbrecher und dergleichen erklären, hei Hypochondristen etc. — Unter den Mitteln der somatischen Therapie sollen im Folgenden nicht alle aufgeführt werden, welche überhaupt einmal in- dicirt sein können, sondern nur diejenigen, welche mit directem Bezuge auf die Gehirnkrankheit theils sich entschieden nützlich zeigen, theils der Art der Symp- tome nach als besonders indicirt erscheinen könnten.
§. 167.
Die Anwendung der Blutentziehungen, zu denen von jeher theils apriorische Entzündungstheorieen, theils pathologischanatomische Resultate, theils die oft so stürmischen Symptome an sich schon hin- geleitet haben, ist von der neueren Zeit bedeutend beschränkt worden und Jedermann ist darüber einig, dass die Indication des Aderlasses nicht aus dem Delirium an sich oder irgend einer Form desselben, sei es auch die activste, aufgeregteste, wüthendste, entnommen werden darf. Zustände von allgemeinem Sinken der Ernährung und von Anämie, nicht nur nach Blutverlusten, sexuellen Excessen etc., sondern ebenso häufig auch nach lange dauernden psychischen Schmerzzu- ständen gehören ja häufig zu den ätiologischen Momenten des Irreseins, namentlich auch in der Form der Tobsucht. Diese Fälle, und ihnen zunächst sich anschliessend die aus habitueller Trunksucht entstandenen, contraindiciren die Aderlässe. Werden solche hier dennoch angestellt, so folgt ihnen gewöhnlich alsbald eine Steigerung aller Symptome; namentlich bricht hier gerne bei bisher noch Schwermüthigen die
Griesinger, psych. Krankhtn. 23
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbn="353"facs="#f0367"/><fwtype="header"place="top">Blutentziehungen. Aderlass.</fw><lb/>
die Wirkung auf die Organe, z. B. die Erosion der Magenschleimhaut<lb/>
durch grosse Gaben Tartarus emeticus keineswegs ausbleibt; nur in<lb/>
wenigen Fällen braucht man ungewöhnlich hohe Gaben von einzelnen<lb/>
Mitteln, namentlich Purganzen und Narcoticis; da hierin grosse indi-<lb/>
viduelle Verschiedenheiten vorkommen und sich der Erfolg nicht a<lb/>
priori schätzen lässt, so müssen immer zuerst mässige Gaben ver-<lb/>
sucht, und von diesen — allerdings zuweilen rasch — der Uebergang<lb/>
zu den stärkeren gemacht werden.</p><lb/><p>Im Allgemeinen ist eine active somatische Behandlung weit nothwendiger in<lb/>
den frischen, als in den alten verschleppten Zuständen von Irresein. Die letzteren<lb/>
Fälle, wo so häufig das leibliche Befinden gar keine Störung zeigt, geben dann<lb/>
weder bestimmtere Indicationen zu Arzneimitteln, noch hat sich deren empirische<lb/>
versuchsweise Anwendung nur im Geringsten nützlich gezeigt. Doch gibt es<lb/>
Fälle, wo es auch ohne alle rationelle Indicationen vortheilhaft ist, dem Kranken<lb/>
Arzneien, natürlich nur durchaus indifferenter Art, zu verabreichen, um ihm zu<lb/>
zeigen, dass er wirklich als krank betrachtet wird, um seine Hoffnung zu er-<lb/>
halten und ihm eine stete ärztliche Fürsorge zu beweisen. Hier dienen die<lb/>
Arzneien als psychische Mittel; so z. B. bei sehr misstrauischen Kranken, welche<lb/>
die Irrenanstalt für ein Staatsgefängniss, einen Ort für Verbrecher und dergleichen<lb/>
erklären, hei Hypochondristen etc. — Unter den Mitteln der somatischen Therapie<lb/>
sollen im Folgenden nicht alle aufgeführt werden, welche überhaupt einmal in-<lb/>
dicirt sein können, sondern nur diejenigen, welche mit directem Bezuge auf die<lb/>
Gehirnkrankheit theils sich entschieden nützlich zeigen, theils der Art der Symp-<lb/>
tome nach als besonders indicirt erscheinen könnten.</p></div><lb/><divn="4"><head>§. 167.</head><lb/><p>Die Anwendung der <hirendition="#g">Blutentziehungen</hi>, zu denen von jeher<lb/>
theils apriorische Entzündungstheorieen, theils pathologischanatomische<lb/>
Resultate, theils die oft so stürmischen Symptome an sich schon hin-<lb/>
geleitet haben, ist von der neueren Zeit bedeutend beschränkt worden<lb/>
und Jedermann ist darüber einig, dass die Indication des <hirendition="#g">Aderlasses</hi><lb/>
nicht aus dem Delirium an sich oder irgend einer Form desselben,<lb/>
sei es auch die activste, aufgeregteste, wüthendste, entnommen werden<lb/>
darf. Zustände von allgemeinem Sinken der Ernährung und von<lb/>
Anämie, nicht nur nach Blutverlusten, sexuellen Excessen etc., sondern<lb/>
ebenso häufig auch nach lange dauernden psychischen Schmerzzu-<lb/>
ständen gehören ja häufig zu den ätiologischen Momenten des Irreseins,<lb/>
namentlich auch in der Form der Tobsucht. Diese Fälle, und ihnen<lb/>
zunächst sich anschliessend die aus habitueller Trunksucht entstandenen,<lb/>
contraindiciren die Aderlässe. Werden solche hier dennoch angestellt,<lb/>
so folgt ihnen gewöhnlich alsbald eine Steigerung aller Symptome;<lb/>
namentlich bricht hier gerne bei bisher noch Schwermüthigen die<lb/><fwtype="sig"place="bottom"><hirendition="#g">Griesinger</hi>, psych. Krankhtn. 23</fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[353/0367]
Blutentziehungen. Aderlass.
die Wirkung auf die Organe, z. B. die Erosion der Magenschleimhaut
durch grosse Gaben Tartarus emeticus keineswegs ausbleibt; nur in
wenigen Fällen braucht man ungewöhnlich hohe Gaben von einzelnen
Mitteln, namentlich Purganzen und Narcoticis; da hierin grosse indi-
viduelle Verschiedenheiten vorkommen und sich der Erfolg nicht a
priori schätzen lässt, so müssen immer zuerst mässige Gaben ver-
sucht, und von diesen — allerdings zuweilen rasch — der Uebergang
zu den stärkeren gemacht werden.
Im Allgemeinen ist eine active somatische Behandlung weit nothwendiger in
den frischen, als in den alten verschleppten Zuständen von Irresein. Die letzteren
Fälle, wo so häufig das leibliche Befinden gar keine Störung zeigt, geben dann
weder bestimmtere Indicationen zu Arzneimitteln, noch hat sich deren empirische
versuchsweise Anwendung nur im Geringsten nützlich gezeigt. Doch gibt es
Fälle, wo es auch ohne alle rationelle Indicationen vortheilhaft ist, dem Kranken
Arzneien, natürlich nur durchaus indifferenter Art, zu verabreichen, um ihm zu
zeigen, dass er wirklich als krank betrachtet wird, um seine Hoffnung zu er-
halten und ihm eine stete ärztliche Fürsorge zu beweisen. Hier dienen die
Arzneien als psychische Mittel; so z. B. bei sehr misstrauischen Kranken, welche
die Irrenanstalt für ein Staatsgefängniss, einen Ort für Verbrecher und dergleichen
erklären, hei Hypochondristen etc. — Unter den Mitteln der somatischen Therapie
sollen im Folgenden nicht alle aufgeführt werden, welche überhaupt einmal in-
dicirt sein können, sondern nur diejenigen, welche mit directem Bezuge auf die
Gehirnkrankheit theils sich entschieden nützlich zeigen, theils der Art der Symp-
tome nach als besonders indicirt erscheinen könnten.
§. 167.
Die Anwendung der Blutentziehungen, zu denen von jeher
theils apriorische Entzündungstheorieen, theils pathologischanatomische
Resultate, theils die oft so stürmischen Symptome an sich schon hin-
geleitet haben, ist von der neueren Zeit bedeutend beschränkt worden
und Jedermann ist darüber einig, dass die Indication des Aderlasses
nicht aus dem Delirium an sich oder irgend einer Form desselben,
sei es auch die activste, aufgeregteste, wüthendste, entnommen werden
darf. Zustände von allgemeinem Sinken der Ernährung und von
Anämie, nicht nur nach Blutverlusten, sexuellen Excessen etc., sondern
ebenso häufig auch nach lange dauernden psychischen Schmerzzu-
ständen gehören ja häufig zu den ätiologischen Momenten des Irreseins,
namentlich auch in der Form der Tobsucht. Diese Fälle, und ihnen
zunächst sich anschliessend die aus habitueller Trunksucht entstandenen,
contraindiciren die Aderlässe. Werden solche hier dennoch angestellt,
so folgt ihnen gewöhnlich alsbald eine Steigerung aller Symptome;
namentlich bricht hier gerne bei bisher noch Schwermüthigen die
Griesinger, psych. Krankhtn. 23
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 353. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/367>, abgerufen am 03.03.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.