Vor gröberen therapeutischen Illusionen wird die Erinnerung daran schützen, dass viele dieser Kranken bei einer nur nicht positiv schädlichen Behandlungsweise von selbst genesen; der Gedanke an etwaige Specifica gegen das Irresein im Ganzen, gegen die Tobsucht, die Melancholie etc., wird sein Gegengewicht in der Er- wägung finden, wie ausserordentlich verschieden in Bezug auf den anatomischen Gehirnzustand und auf die Pathogenie die Erkrankungen sind, welche die Symptome des Irreseins geben. Gegenstand der somati- schen Therapie sind zunächst die noch fortbestehenden Krankheitspro- cesse, welche die Entwicklung der Gehirnkrankheit einleiteten mit haupt- sächlicher Rücksicht auf Circulations- und Respirationsorgane, auf die Genitalien und auf die Darmschleimhaut. Die Behandlung der hier aufgefundenen Affectionen hat keine besonderen Eigenthümlichkeiten. Man hüte sich einerseits vor einer nicht genügend begründeten, durch theoretische Voraussetzungen suggerirten Annahme solcher Störungen, um nicht Gefahr zu laufen, nur seine eigenen Hypothesen zu be- kämpfen. Man beachte aber auch andererseits, wie bei Geisteskranken die Auffindung körperlicher Störungen oft ausserordentlich erschwert ist, in so ferne viele Kranke sich wenig oder gar nicht über ihre Empfindungen aussprechen, und eben wegen der Gehirnaffection manche sonst gewohnte, namentlich subjective Symptome (z. B. bei Phthisis, Pneumonie) ganz fehlen. Um so sorgfältiger ist natürlich eben die objective Diagnose zu üben. Wo sich in pathogenetischer Beziehung keine rationellen Indicationen ergeben, ist ausschliesslich der gegen- wärtige Krankheitszustand des Gehirns Gegenstand der somatischen Behandlung, und es wird je nach der wahrscheinlicher oder sicherer anzunehmenden Gehirnirritation, Gehirnhyperämie, Gehirnentzündung direct gegen diese Zustände in durchaus ähnlicher Weise, wie gegen die entsprechenden Zustände des Rückenmarks verfahren.
Bei dem Gebrauch von Arzneien wird nicht selten das verbreitete Vorurtheil dem Kranken schädlich, dass es bei Irren immer bedeutend grösserer Arzneidosen bedürfe, als in sonstigen Krankheiten. In vielen Fällen sieht man gar nichts dergleichen; in anderen ist die Toleranz nur scheinbar stärker, indem der Kranke manche widrige Wirkungen (z. B. Ekel) verschweigt, im Sturme des Deliriums nicht beachtet oder aus krankhaftem Eigensinn sie ohne Klagen erträgt, während
Zweites Capitel. Somatische Behandlung.
§. 166.
Vor gröberen therapeutischen Illusionen wird die Erinnerung daran schützen, dass viele dieser Kranken bei einer nur nicht positiv schädlichen Behandlungsweise von selbst genesen; der Gedanke an etwaige Specifica gegen das Irresein im Ganzen, gegen die Tobsucht, die Melancholie etc., wird sein Gegengewicht in der Er- wägung finden, wie ausserordentlich verschieden in Bezug auf den anatomischen Gehirnzustand und auf die Pathogenie die Erkrankungen sind, welche die Symptome des Irreseins geben. Gegenstand der somati- schen Therapie sind zunächst die noch fortbestehenden Krankheitspro- cesse, welche die Entwicklung der Gehirnkrankheit einleiteten mit haupt- sächlicher Rücksicht auf Circulations- und Respirationsorgane, auf die Genitalien und auf die Darmschleimhaut. Die Behandlung der hier aufgefundenen Affectionen hat keine besonderen Eigenthümlichkeiten. Man hüte sich einerseits vor einer nicht genügend begründeten, durch theoretische Voraussetzungen suggerirten Annahme solcher Störungen, um nicht Gefahr zu laufen, nur seine eigenen Hypothesen zu be- kämpfen. Man beachte aber auch andererseits, wie bei Geisteskranken die Auffindung körperlicher Störungen oft ausserordentlich erschwert ist, in so ferne viele Kranke sich wenig oder gar nicht über ihre Empfindungen aussprechen, und eben wegen der Gehirnaffection manche sonst gewohnte, namentlich subjective Symptome (z. B. bei Phthisis, Pneumonie) ganz fehlen. Um so sorgfältiger ist natürlich eben die objective Diagnose zu üben. Wo sich in pathogenetischer Beziehung keine rationellen Indicationen ergeben, ist ausschliesslich der gegen- wärtige Krankheitszustand des Gehirns Gegenstand der somatischen Behandlung, und es wird je nach der wahrscheinlicher oder sicherer anzunehmenden Gehirnirritation, Gehirnhyperämie, Gehirnentzündung direct gegen diese Zustände in durchaus ähnlicher Weise, wie gegen die entsprechenden Zustände des Rückenmarks verfahren.
Bei dem Gebrauch von Arzneien wird nicht selten das verbreitete Vorurtheil dem Kranken schädlich, dass es bei Irren immer bedeutend grösserer Arzneidosen bedürfe, als in sonstigen Krankheiten. In vielen Fällen sieht man gar nichts dergleichen; in anderen ist die Toleranz nur scheinbar stärker, indem der Kranke manche widrige Wirkungen (z. B. Ekel) verschweigt, im Sturme des Deliriums nicht beachtet oder aus krankhaftem Eigensinn sie ohne Klagen erträgt, während
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0366"n="352"/><divn="3"><head><hirendition="#b">Zweites Capitel.</hi><lb/><hirendition="#i">Somatische Behandlung</hi>.</head><lb/><divn="4"><head>§. 166.</head><lb/><p>Vor gröberen therapeutischen Illusionen wird die Erinnerung<lb/>
daran schützen, dass viele dieser Kranken bei einer nur nicht<lb/>
positiv schädlichen Behandlungsweise von selbst genesen; der Gedanke<lb/>
an etwaige Specifica gegen das Irresein im Ganzen, gegen die<lb/>
Tobsucht, die Melancholie etc., wird sein Gegengewicht in der Er-<lb/>
wägung finden, wie ausserordentlich verschieden in Bezug auf den<lb/>
anatomischen Gehirnzustand und auf die Pathogenie die Erkrankungen<lb/>
sind, welche die Symptome des Irreseins geben. Gegenstand der somati-<lb/>
schen Therapie sind zunächst die noch fortbestehenden Krankheitspro-<lb/>
cesse, welche die Entwicklung der Gehirnkrankheit einleiteten mit haupt-<lb/>
sächlicher Rücksicht auf Circulations- und Respirationsorgane, auf die<lb/>
Genitalien und auf die Darmschleimhaut. Die Behandlung der hier<lb/>
aufgefundenen Affectionen hat keine besonderen Eigenthümlichkeiten.<lb/>
Man hüte sich einerseits vor einer nicht genügend begründeten, durch<lb/>
theoretische Voraussetzungen suggerirten Annahme solcher Störungen,<lb/>
um nicht Gefahr zu laufen, nur seine eigenen Hypothesen zu be-<lb/>
kämpfen. Man beachte aber auch andererseits, wie bei Geisteskranken<lb/>
die Auffindung körperlicher Störungen oft ausserordentlich erschwert<lb/>
ist, in so ferne viele Kranke sich wenig oder gar nicht über ihre<lb/>
Empfindungen aussprechen, und eben wegen der Gehirnaffection manche<lb/>
sonst gewohnte, namentlich subjective Symptome (z. B. bei Phthisis,<lb/>
Pneumonie) ganz fehlen. Um so sorgfältiger ist natürlich eben die<lb/>
objective Diagnose zu üben. Wo sich in pathogenetischer Beziehung<lb/>
keine rationellen Indicationen ergeben, ist ausschliesslich der gegen-<lb/>
wärtige Krankheitszustand des Gehirns Gegenstand der somatischen<lb/>
Behandlung, und es wird je nach der wahrscheinlicher oder sicherer<lb/>
anzunehmenden Gehirnirritation, Gehirnhyperämie, Gehirnentzündung<lb/>
direct gegen diese Zustände in durchaus ähnlicher Weise, wie gegen<lb/>
die entsprechenden Zustände des Rückenmarks verfahren.</p><lb/><p>Bei dem Gebrauch von Arzneien wird nicht selten das verbreitete<lb/>
Vorurtheil dem Kranken schädlich, dass es bei Irren immer bedeutend<lb/>
grösserer Arzneidosen bedürfe, als in sonstigen Krankheiten. In vielen<lb/>
Fällen sieht man gar nichts dergleichen; in anderen ist die Toleranz<lb/>
nur <choice><sic>scheinhar</sic><corr>scheinbar</corr></choice> stärker, indem der Kranke manche widrige Wirkungen<lb/>
(z. B. Ekel) verschweigt, im Sturme des Deliriums nicht beachtet<lb/>
oder aus krankhaftem Eigensinn sie ohne Klagen erträgt, während<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[352/0366]
Zweites Capitel.
Somatische Behandlung.
§. 166.
Vor gröberen therapeutischen Illusionen wird die Erinnerung
daran schützen, dass viele dieser Kranken bei einer nur nicht
positiv schädlichen Behandlungsweise von selbst genesen; der Gedanke
an etwaige Specifica gegen das Irresein im Ganzen, gegen die
Tobsucht, die Melancholie etc., wird sein Gegengewicht in der Er-
wägung finden, wie ausserordentlich verschieden in Bezug auf den
anatomischen Gehirnzustand und auf die Pathogenie die Erkrankungen
sind, welche die Symptome des Irreseins geben. Gegenstand der somati-
schen Therapie sind zunächst die noch fortbestehenden Krankheitspro-
cesse, welche die Entwicklung der Gehirnkrankheit einleiteten mit haupt-
sächlicher Rücksicht auf Circulations- und Respirationsorgane, auf die
Genitalien und auf die Darmschleimhaut. Die Behandlung der hier
aufgefundenen Affectionen hat keine besonderen Eigenthümlichkeiten.
Man hüte sich einerseits vor einer nicht genügend begründeten, durch
theoretische Voraussetzungen suggerirten Annahme solcher Störungen,
um nicht Gefahr zu laufen, nur seine eigenen Hypothesen zu be-
kämpfen. Man beachte aber auch andererseits, wie bei Geisteskranken
die Auffindung körperlicher Störungen oft ausserordentlich erschwert
ist, in so ferne viele Kranke sich wenig oder gar nicht über ihre
Empfindungen aussprechen, und eben wegen der Gehirnaffection manche
sonst gewohnte, namentlich subjective Symptome (z. B. bei Phthisis,
Pneumonie) ganz fehlen. Um so sorgfältiger ist natürlich eben die
objective Diagnose zu üben. Wo sich in pathogenetischer Beziehung
keine rationellen Indicationen ergeben, ist ausschliesslich der gegen-
wärtige Krankheitszustand des Gehirns Gegenstand der somatischen
Behandlung, und es wird je nach der wahrscheinlicher oder sicherer
anzunehmenden Gehirnirritation, Gehirnhyperämie, Gehirnentzündung
direct gegen diese Zustände in durchaus ähnlicher Weise, wie gegen
die entsprechenden Zustände des Rückenmarks verfahren.
Bei dem Gebrauch von Arzneien wird nicht selten das verbreitete
Vorurtheil dem Kranken schädlich, dass es bei Irren immer bedeutend
grösserer Arzneidosen bedürfe, als in sonstigen Krankheiten. In vielen
Fällen sieht man gar nichts dergleichen; in anderen ist die Toleranz
nur scheinbar stärker, indem der Kranke manche widrige Wirkungen
(z. B. Ekel) verschweigt, im Sturme des Deliriums nicht beachtet
oder aus krankhaftem Eigensinn sie ohne Klagen erträgt, während
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/366>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.