durchaus nicht bewusst ist, muss er um jeden Preis der steten Wie- derholung der Eindrücke, welche die Erkrankung erzeugten, entzo- gen werden. Zu grossem Theile fällt diess mit der wichtigen Indi- cation einer sorgfältigen Regulirung der Verhältnisse von Ruhe und Thätigkeit des Gehirns (s. den folgenden §.), einem der Schlüssel zum Verständnisse der ganzen Irrentherapie, zusammen.
Die Prophylaxis der Geisteskrankheiten ist selten der Gegenstand ärztli- cher Berathung. Eine Verhütung derselben könnte schon dadurch erreicht werden, dass Heirathen unter den Mitgliedern einer zum Irrewerden auffallend disponirten Familie vermieden würden. In Bezug auf individuelle Prophylaxis kommt es bei Personen, welche man für disponirt zum Irrewerden halten muss, vorzugsweise auf eine wohlgeordnete psychische und leibliche Diätetik an. Schon in der Er- ziehung müsste alle Ueberanstrengung des Gehirns vermieden, dagegen die Aus- bildung und Uebung der körperlichen Kräfte im Auge behalten werden; Alles, was ein Vorherrschen der Phantasie und eine zu frühe Entwicklung des Ge- schlechtstriebes veranlassen könnte, müsste entfernt gehalten, es müsste immer so viel als möglich für die einfachsten, geordnetsten äusseren Lebensverhältnisse, für Vermeidung anhaltender Leidenschaften etc. gesorgt werden. Damit sind aber, wie Flemming mit Recht bemerkt, nicht abstracte Ermahnungen zum "Weisesein" gemeint, welche nur geringen Stand halten, wenn sich stürmische Bewegungen aus der in der Tiefe erschütterten Seele erheben, sondern die Kraft zum Wider- stande gegen Leidensehaft und Seelenschmerz beruht vor Allem auch auf einer kräftigen, widerstandsfähigen Organisation, also auf Erhaltung der ganzen leiblichen Gesundheit, auf sorgfältiger unverdrossener Beseitigung aller zum Chronischen tendirenden Erkrankungen, und die Mittel hiezu, wenn gleich zum grössten Theile diätetischer Art, müssen in den einzelnen Fällen sehr verschieden ausfallen.
§. 163.
Wie bei allen andern Organen ein gehörig regulirtes Mass von Ruhe und Thätigkeit zu den wichtigsten Heilmitteln gehört, so auch bei diesen Krankheiten des Gehirns. Für alle frischen acuten Erkrankungsfälle ist das erste Erforderniss eine absolute Ruhe des Gehirns, die Abhaltung der meisten, auch sonst gewohnten, noch mehr natürlich aller stärkeren oder positiv schädlichen Reize. Der Erkran- kende sucht auch instinctiv diese Ruhe, er entzieht sich jedem leb- hafteren psychischen Eindruck, jedem Lärm, jedem anstrengenderen Gespräch -- lauter Dinge, die ihm jetzt schmerzhaft werden, und sucht die Einsamkeit. So ist hier jeder Versuch vergehlich oder schädlich, dem beginnenden Versinken in Melancholie etwa äussere, besonders rauschende, lärmende Zerstreuungen entgegenzusetzen, von denen der Kranke jetzt nur peinliche Eindrücke erhält; noch schäd- licher ist es, wenn dem Kranken mit eindringlichem Zureden, Aus- fragen, Ermahnungen zugesetzt wird; schon die früher gewöhnte, ja
Prophylaxis. Ruhe und
durchaus nicht bewusst ist, muss er um jeden Preis der steten Wie- derholung der Eindrücke, welche die Erkrankung erzeugten, entzo- gen werden. Zu grossem Theile fällt diess mit der wichtigen Indi- cation einer sorgfältigen Regulirung der Verhältnisse von Ruhe und Thätigkeit des Gehirns (s. den folgenden §.), einem der Schlüssel zum Verständnisse der ganzen Irrentherapie, zusammen.
Die Prophylaxis der Geisteskrankheiten ist selten der Gegenstand ärztli- cher Berathung. Eine Verhütung derselben könnte schon dadurch erreicht werden, dass Heirathen unter den Mitgliedern einer zum Irrewerden auffallend disponirten Familie vermieden würden. In Bezug auf individuelle Prophylaxis kommt es bei Personen, welche man für disponirt zum Irrewerden halten muss, vorzugsweise auf eine wohlgeordnete psychische und leibliche Diätetik an. Schon in der Er- ziehung müsste alle Ueberanstrengung des Gehirns vermieden, dagegen die Aus- bildung und Uebung der körperlichen Kräfte im Auge behalten werden; Alles, was ein Vorherrschen der Phantasie und eine zu frühe Entwicklung des Ge- schlechtstriebes veranlassen könnte, müsste entfernt gehalten, es müsste immer so viel als möglich für die einfachsten, geordnetsten äusseren Lebensverhältnisse, für Vermeidung anhaltender Leidenschaften etc. gesorgt werden. Damit sind aber, wie Flemming mit Recht bemerkt, nicht abstracte Ermahnungen zum „Weisesein“ gemeint, welche nur geringen Stand halten, wenn sich stürmische Bewegungen aus der in der Tiefe erschütterten Seele erheben, sondern die Kraft zum Wider- stande gegen Leidensehaft und Seelenschmerz beruht vor Allem auch auf einer kräftigen, widerstandsfähigen Organisation, also auf Erhaltung der ganzen leiblichen Gesundheit, auf sorgfältiger unverdrossener Beseitigung aller zum Chronischen tendirenden Erkrankungen, und die Mittel hiezu, wenn gleich zum grössten Theile diätetischer Art, müssen in den einzelnen Fällen sehr verschieden ausfallen.
§. 163.
Wie bei allen andern Organen ein gehörig regulirtes Mass von Ruhe und Thätigkeit zu den wichtigsten Heilmitteln gehört, so auch bei diesen Krankheiten des Gehirns. Für alle frischen acuten Erkrankungsfälle ist das erste Erforderniss eine absolute Ruhe des Gehirns, die Abhaltung der meisten, auch sonst gewohnten, noch mehr natürlich aller stärkeren oder positiv schädlichen Reize. Der Erkran- kende sucht auch instinctiv diese Ruhe, er entzieht sich jedem leb- hafteren psychischen Eindruck, jedem Lärm, jedem anstrengenderen Gespräch — lauter Dinge, die ihm jetzt schmerzhaft werden, und sucht die Einsamkeit. So ist hier jeder Versuch vergehlich oder schädlich, dem beginnenden Versinken in Melancholie etwa äussere, besonders rauschende, lärmende Zerstreuungen entgegenzusetzen, von denen der Kranke jetzt nur peinliche Eindrücke erhält; noch schäd- licher ist es, wenn dem Kranken mit eindringlichem Zureden, Aus- fragen, Ermahnungen zugesetzt wird; schon die früher gewöhnte, ja
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Prophylaxis. Ruhe und
durchaus nicht bewusst ist, muss er um jeden Preis der steten Wie-
derholung der Eindrücke, welche die Erkrankung erzeugten, entzo-
gen werden. Zu grossem Theile fällt diess mit der wichtigen Indi-
cation einer sorgfältigen Regulirung der Verhältnisse von Ruhe und
Thätigkeit des Gehirns (s. den folgenden §.), einem der Schlüssel
zum Verständnisse der ganzen Irrentherapie, zusammen.
Die Prophylaxis der Geisteskrankheiten ist selten der Gegenstand ärztli-
cher Berathung. Eine Verhütung derselben könnte schon dadurch erreicht werden,
dass Heirathen unter den Mitgliedern einer zum Irrewerden auffallend disponirten
Familie vermieden würden. In Bezug auf individuelle Prophylaxis kommt es bei
Personen, welche man für disponirt zum Irrewerden halten muss, vorzugsweise
auf eine wohlgeordnete psychische und leibliche Diätetik an. Schon in der Er-
ziehung müsste alle Ueberanstrengung des Gehirns vermieden, dagegen die Aus-
bildung und Uebung der körperlichen Kräfte im Auge behalten werden; Alles,
was ein Vorherrschen der Phantasie und eine zu frühe Entwicklung des Ge-
schlechtstriebes veranlassen könnte, müsste entfernt gehalten, es müsste immer
so viel als möglich für die einfachsten, geordnetsten äusseren Lebensverhältnisse,
für Vermeidung anhaltender Leidenschaften etc. gesorgt werden. Damit sind aber,
wie Flemming mit Recht bemerkt, nicht abstracte Ermahnungen zum „Weisesein“
gemeint, welche nur geringen Stand halten, wenn sich stürmische Bewegungen
aus der in der Tiefe erschütterten Seele erheben, sondern die Kraft zum Wider-
stande gegen Leidensehaft und Seelenschmerz beruht vor Allem auch auf einer
kräftigen, widerstandsfähigen Organisation, also auf Erhaltung der ganzen leiblichen
Gesundheit, auf sorgfältiger unverdrossener Beseitigung aller zum Chronischen
tendirenden Erkrankungen, und die Mittel hiezu, wenn gleich zum grössten Theile
diätetischer Art, müssen in den einzelnen Fällen sehr verschieden ausfallen.
§. 163.
Wie bei allen andern Organen ein gehörig regulirtes Mass von
Ruhe und Thätigkeit zu den wichtigsten Heilmitteln gehört, so
auch bei diesen Krankheiten des Gehirns. Für alle frischen acuten
Erkrankungsfälle ist das erste Erforderniss eine absolute Ruhe des
Gehirns, die Abhaltung der meisten, auch sonst gewohnten, noch mehr
natürlich aller stärkeren oder positiv schädlichen Reize. Der Erkran-
kende sucht auch instinctiv diese Ruhe, er entzieht sich jedem leb-
hafteren psychischen Eindruck, jedem Lärm, jedem anstrengenderen
Gespräch — lauter Dinge, die ihm jetzt schmerzhaft werden, und
sucht die Einsamkeit. So ist hier jeder Versuch vergehlich oder
schädlich, dem beginnenden Versinken in Melancholie etwa äussere,
besonders rauschende, lärmende Zerstreuungen entgegenzusetzen, von
denen der Kranke jetzt nur peinliche Eindrücke erhält; noch schäd-
licher ist es, wenn dem Kranken mit eindringlichem Zureden, Aus-
fragen, Ermahnungen zugesetzt wird; schon die früher gewöhnte, ja
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 346. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/360>, abgerufen am 03.03.2025.
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