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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Ob sie Folgen des Irreseins seien?
bei Läsion der Vorderlappen ohne Zweifel auf das erloschene Wort-
gedächtniss zu beziehen sind.

§. 138.

Der Mangel an constanten, immer gleichen anatomischen Ver-
änderungen und ihr nicht selten gänzliches Fehlen haben zu der
unter vielen Aerzten verbreiteten Behauptung Anlass gegeben, dass
die Gehirnalterationen bei Geisteskranken nicht die nächsten organi-
schen Bedingungen und Ursachen eben jener Symptome von Irresein,
dass sie vielmehr nur die Folgen der Seelenstörung seien.
Andere geben zwar zu, dass jene tieferen Organveränderungen (z. B.
die Atrophie), welche man so oft bei Blödsinnigen findet, allerdings
in derselben Weise der psychischen Schwäche zu Grunde liegen, wie
z. B. die Atrophie der Retina und des Opticus manchen Blindheiten;
sie läugnen aber, dass die andern Formen des Irreseins, Schwermuth,
Manie etc. von den vorhandenen (leichteren) anatomischen Störungen
abzuleiten seien, eben wegen der Inconstanz dieser Läsionen.

Die näheren Umstände freilich, die organischen Hergänge, durch
deren Vermittlung jene Folgen aus dem Symptomencomplex des
Irreseins sich ergeben sollen, hat man dabei so gut wie allgemein
anzugeben, ja auch nur anzudeuten vergessen, und es nimmt sich jene
Behauptung fast mehr wie ein letzter Zufluchtsort vor materialistischen
Anschauungsweisen, als wie ein Resultat wissenschaftlicher Untersu-
chung, sie nimmt sich fast ebenso instanzlos aus, wie etwa die Be-
hauptung, der Darmcatarrh, den man in den Leichen finde, sei nicht
die Ursache, sondern die Folge der vorhandenen Diarrhoe gewesen.
Wir indessen vermögen dem für manche Fälle Richtigen, was in
jenem Satze liegt, nicht nur seinen gehörigen Platz anzuweisen, son-
dern auch die erklärenden Anhaltspunkte für dasselbe zu bieten.
Alles nemlich, was oben (im zweiten Buch) über den Einfluss der
Affecte auf Erzeugung von Gehirnkrankheit gesagt ist, findet auch
seine Anwendung auf die krankhaften Affecte der Schwermuth,
der Manie etc., und es unterliegt keinem Zweifel, dass das Bestehen
dieser Seelenzustände Gehirnhyperämieen mit allen ihren Folgen ver-
anlassen kann. Nur müssen diese substantiellen Erkrankungen offenbar
unendlich oft durch die Krankheitsursache selbst schon, nicht erst
durch die Krankheit gesetzt sein; es ist ja oben in extenso gezeigt
worden, wie viele dieser Ursachen das Irresein durch Gehirnhyperämie
erzeugen, und es bietet die gewöhnliche, aus äusseren Ursachen

Ob sie Folgen des Irreseins seien?
bei Läsion der Vorderlappen ohne Zweifel auf das erloschene Wort-
gedächtniss zu beziehen sind.

§. 138.

Der Mangel an constanten, immer gleichen anatomischen Ver-
änderungen und ihr nicht selten gänzliches Fehlen haben zu der
unter vielen Aerzten verbreiteten Behauptung Anlass gegeben, dass
die Gehirnalterationen bei Geisteskranken nicht die nächsten organi-
schen Bedingungen und Ursachen eben jener Symptome von Irresein,
dass sie vielmehr nur die Folgen der Seelenstörung seien.
Andere geben zwar zu, dass jene tieferen Organveränderungen (z. B.
die Atrophie), welche man so oft bei Blödsinnigen findet, allerdings
in derselben Weise der psychischen Schwäche zu Grunde liegen, wie
z. B. die Atrophie der Retina und des Opticus manchen Blindheiten;
sie läugnen aber, dass die andern Formen des Irreseins, Schwermuth,
Manie etc. von den vorhandenen (leichteren) anatomischen Störungen
abzuleiten seien, eben wegen der Inconstanz dieser Läsionen.

Die näheren Umstände freilich, die organischen Hergänge, durch
deren Vermittlung jene Folgen aus dem Symptomencomplex des
Irreseins sich ergeben sollen, hat man dabei so gut wie allgemein
anzugeben, ja auch nur anzudeuten vergessen, und es nimmt sich jene
Behauptung fast mehr wie ein letzter Zufluchtsort vor materialistischen
Anschauungsweisen, als wie ein Resultat wissenschaftlicher Untersu-
chung, sie nimmt sich fast ebenso instanzlos aus, wie etwa die Be-
hauptung, der Darmcatarrh, den man in den Leichen finde, sei nicht
die Ursache, sondern die Folge der vorhandenen Diarrhoe gewesen.
Wir indessen vermögen dem für manche Fälle Richtigen, was in
jenem Satze liegt, nicht nur seinen gehörigen Platz anzuweisen, son-
dern auch die erklärenden Anhaltspunkte für dasselbe zu bieten.
Alles nemlich, was oben (im zweiten Buch) über den Einfluss der
Affecte auf Erzeugung von Gehirnkrankheit gesagt ist, findet auch
seine Anwendung auf die krankhaften Affecte der Schwermuth,
der Manie etc., und es unterliegt keinem Zweifel, dass das Bestehen
dieser Seelenzustände Gehirnhyperämieen mit allen ihren Folgen ver-
anlassen kann. Nur müssen diese substantiellen Erkrankungen offenbar
unendlich oft durch die Krankheitsursache selbst schon, nicht erst
durch die Krankheit gesetzt sein; es ist ja oben in extenso gezeigt
worden, wie viele dieser Ursachen das Irresein durch Gehirnhyperämie
erzeugen, und es bietet die gewöhnliche, aus äusseren Ursachen

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[297/0311] Ob sie Folgen des Irreseins seien? bei Läsion der Vorderlappen ohne Zweifel auf das erloschene Wort- gedächtniss zu beziehen sind. §. 138. Der Mangel an constanten, immer gleichen anatomischen Ver- änderungen und ihr nicht selten gänzliches Fehlen haben zu der unter vielen Aerzten verbreiteten Behauptung Anlass gegeben, dass die Gehirnalterationen bei Geisteskranken nicht die nächsten organi- schen Bedingungen und Ursachen eben jener Symptome von Irresein, dass sie vielmehr nur die Folgen der Seelenstörung seien. Andere geben zwar zu, dass jene tieferen Organveränderungen (z. B. die Atrophie), welche man so oft bei Blödsinnigen findet, allerdings in derselben Weise der psychischen Schwäche zu Grunde liegen, wie z. B. die Atrophie der Retina und des Opticus manchen Blindheiten; sie läugnen aber, dass die andern Formen des Irreseins, Schwermuth, Manie etc. von den vorhandenen (leichteren) anatomischen Störungen abzuleiten seien, eben wegen der Inconstanz dieser Läsionen. Die näheren Umstände freilich, die organischen Hergänge, durch deren Vermittlung jene Folgen aus dem Symptomencomplex des Irreseins sich ergeben sollen, hat man dabei so gut wie allgemein anzugeben, ja auch nur anzudeuten vergessen, und es nimmt sich jene Behauptung fast mehr wie ein letzter Zufluchtsort vor materialistischen Anschauungsweisen, als wie ein Resultat wissenschaftlicher Untersu- chung, sie nimmt sich fast ebenso instanzlos aus, wie etwa die Be- hauptung, der Darmcatarrh, den man in den Leichen finde, sei nicht die Ursache, sondern die Folge der vorhandenen Diarrhoe gewesen. Wir indessen vermögen dem für manche Fälle Richtigen, was in jenem Satze liegt, nicht nur seinen gehörigen Platz anzuweisen, son- dern auch die erklärenden Anhaltspunkte für dasselbe zu bieten. Alles nemlich, was oben (im zweiten Buch) über den Einfluss der Affecte auf Erzeugung von Gehirnkrankheit gesagt ist, findet auch seine Anwendung auf die krankhaften Affecte der Schwermuth, der Manie etc., und es unterliegt keinem Zweifel, dass das Bestehen dieser Seelenzustände Gehirnhyperämieen mit allen ihren Folgen ver- anlassen kann. Nur müssen diese substantiellen Erkrankungen offenbar unendlich oft durch die Krankheitsursache selbst schon, nicht erst durch die Krankheit gesetzt sein; es ist ja oben in extenso gezeigt worden, wie viele dieser Ursachen das Irresein durch Gehirnhyperämie erzeugen, und es bietet die gewöhnliche, aus äusseren Ursachen

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/311>, abgerufen am 21.11.2024.