Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Schwermuth
der Aufhebung des Strebens und dem exclusiven traurigen Delirium
Hallucinationen und Illusionen von demselben Character. Der Kranke
hört Stimmen, die ihm Vorwürfe machen, ihn beschimpfen, ihn mit
dem Tode bedrohen, oder einen confusen Lärm von Glocken, Trommeln,
Kanonen etc.; er sieht Gespenster, Leichenzüge, unterirdische Ge-
wölbe, Vulcancrater, die sich vor seinen Füssen öffnen, er sieht zu,
wie man seine liebsten Angehörigen martert etc. Er glaubt sich in
einer Wüste, in der Hölle, auf den Galeeren zu befinden etc.; kurz
der völlig veränderte subjective Antheil an der Sinnesperception und
die daraus hervorgehende Umgestaltung aller Eindrücke lässt ihm alles
Aeussere, was er noch percipirt, nur in Formen und Bildern erscheinen,
die dem herrschenden Affecte adäquat sind (vgl. die Beispiele).

In vielen Beziehungen hat dieser Zustand die grösste Aehnlich-
keit mit einem Halbschlaf- und Traumzustande. Die Entstehung der
schmerzlichen, widrigen Affecte, Vorstellungen und Bilder im Gehirn findet
dabei ihre vollkommene Analogie in dem Auftreten sonderbarer, neuer,
widerwärtiger Empfindungen (Formication, Stechen, Kälte etc.) in dem
abgestumpften (eingeschlafenen) sensitiven Nerven, und wir werden
diese Vergleichung um so passender finden, da in einer ziemlichen
Anzahl hierher gehöriger Fälle ein offenbarer Gehirndruck sich
nachweisen lässt. Die Kranken selbst, wenn sie wieder anfangen,
lebhafter zu werden, selbst zu essen, sich zu beschäftigen, kurz sich
zu erholen, sind erstaunt wie Erwachende, fragen oft, wo sie denn
seien, finden sich erst allmählig zurecht und vergleichen ihren Zu-
stand einem schweren Traum, ihre Genesung einem Erwachen.

§. 101.

Doch ist nicht immer während der Dauer dieser Form der Schwer-
muth eine solche Mannigfaltigkeit widriger Empfindungen, Vorstellungen
und Bilder, wie kaum erwähnt wurde, vorhanden; manchmal ist es
mehr ein Halbschlaf ohne deutliche Träume, ohne jene lebhaften
Hallucinationen etc., ein der Aussenwelt entfremdetes Insichversinken,
dem wenig geblieben ist, als das Gefühl tiefer innerer Verstörtheit
und Willenlosigkeit, wo die psychischen Processe allerdings eine Art von
Suspension erleiden, der Kranke aber doch ein Bewusstsein dieses
seines Zustandes hat. Vielleicht scheint es zuweilen auch nur so,
wenn die Kranken später ungenügende Rechenschaft von ihrem Zu-
stande zu geben, oder sich desselben nur so schwach zu erinnern
vermögen, dass keine so auffallende psychische Anomalieen zu
Tage kommen.

Die Schwermuth
der Aufhebung des Strebens und dem exclusiven traurigen Delirium
Hallucinationen und Illusionen von demselben Character. Der Kranke
hört Stimmen, die ihm Vorwürfe machen, ihn beschimpfen, ihn mit
dem Tode bedrohen, oder einen confusen Lärm von Glocken, Trommeln,
Kanonen etc.; er sieht Gespenster, Leichenzüge, unterirdische Ge-
wölbe, Vulcancrater, die sich vor seinen Füssen öffnen, er sieht zu,
wie man seine liebsten Angehörigen martert etc. Er glaubt sich in
einer Wüste, in der Hölle, auf den Galeeren zu befinden etc.; kurz
der völlig veränderte subjective Antheil an der Sinnesperception und
die daraus hervorgehende Umgestaltung aller Eindrücke lässt ihm alles
Aeussere, was er noch percipirt, nur in Formen und Bildern erscheinen,
die dem herrschenden Affecte adäquat sind (vgl. die Beispiele).

In vielen Beziehungen hat dieser Zustand die grösste Aehnlich-
keit mit einem Halbschlaf- und Traumzustande. Die Entstehung der
schmerzlichen, widrigen Affecte, Vorstellungen und Bilder im Gehirn findet
dabei ihre vollkommene Analogie in dem Auftreten sonderbarer, neuer,
widerwärtiger Empfindungen (Formication, Stechen, Kälte etc.) in dem
abgestumpften (eingeschlafenen) sensitiven Nerven, und wir werden
diese Vergleichung um so passender finden, da in einer ziemlichen
Anzahl hierher gehöriger Fälle ein offenbarer Gehirndruck sich
nachweisen lässt. Die Kranken selbst, wenn sie wieder anfangen,
lebhafter zu werden, selbst zu essen, sich zu beschäftigen, kurz sich
zu erholen, sind erstaunt wie Erwachende, fragen oft, wo sie denn
seien, finden sich erst allmählig zurecht und vergleichen ihren Zu-
stand einem schweren Traum, ihre Genesung einem Erwachen.

§. 101.

Doch ist nicht immer während der Dauer dieser Form der Schwer-
muth eine solche Mannigfaltigkeit widriger Empfindungen, Vorstellungen
und Bilder, wie kaum erwähnt wurde, vorhanden; manchmal ist es
mehr ein Halbschlaf ohne deutliche Träume, ohne jene lebhaften
Hallucinationen etc., ein der Aussenwelt entfremdetes Insichversinken,
dem wenig geblieben ist, als das Gefühl tiefer innerer Verstörtheit
und Willenlosigkeit, wo die psychischen Processe allerdings eine Art von
Suspension erleiden, der Kranke aber doch ein Bewusstsein dieses
seines Zustandes hat. Vielleicht scheint es zuweilen auch nur so,
wenn die Kranken später ungenügende Rechenschaft von ihrem Zu-
stande zu geben, oder sich desselben nur so schwach zu erinnern
vermögen, dass keine so auffallende psychische Anomalieen zu
Tage kommen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0202" n="188"/><fw place="top" type="header">Die Schwermuth</fw><lb/>
der Aufhebung des Strebens und dem exclusiven traurigen Delirium<lb/>
Hallucinationen und Illusionen von demselben Character. Der Kranke<lb/>
hört Stimmen, die ihm Vorwürfe machen, ihn beschimpfen, ihn mit<lb/>
dem Tode bedrohen, oder einen confusen Lärm von Glocken, Trommeln,<lb/>
Kanonen etc.; er sieht Gespenster, Leichenzüge, unterirdische Ge-<lb/>
wölbe, Vulcancrater, die sich vor seinen Füssen öffnen, er sieht zu,<lb/>
wie man seine liebsten Angehörigen martert etc. Er glaubt sich in<lb/>
einer Wüste, in der Hölle, auf den Galeeren zu befinden etc.; kurz<lb/>
der völlig veränderte subjective Antheil an der Sinnesperception und<lb/>
die daraus hervorgehende Umgestaltung aller Eindrücke lässt ihm alles<lb/>
Aeussere, was er noch percipirt, nur in Formen und Bildern erscheinen,<lb/>
die dem herrschenden Affecte adäquat sind (vgl. die Beispiele).</p><lb/>
              <p>In vielen Beziehungen hat dieser Zustand die grösste Aehnlich-<lb/>
keit mit einem Halbschlaf- und Traumzustande. Die Entstehung der<lb/>
schmerzlichen, widrigen Affecte, Vorstellungen und Bilder im Gehirn findet<lb/>
dabei ihre vollkommene Analogie in dem Auftreten sonderbarer, neuer,<lb/>
widerwärtiger Empfindungen (Formication, Stechen, Kälte etc.) in dem<lb/>
abgestumpften (eingeschlafenen) sensitiven Nerven, und wir werden<lb/>
diese Vergleichung um so passender finden, da in einer ziemlichen<lb/>
Anzahl hierher gehöriger Fälle ein offenbarer Gehirndruck sich<lb/>
nachweisen lässt. Die Kranken selbst, wenn sie wieder anfangen,<lb/>
lebhafter zu werden, selbst zu essen, sich zu beschäftigen, kurz sich<lb/>
zu erholen, sind erstaunt wie Erwachende, fragen oft, wo sie denn<lb/>
seien, finden sich erst allmählig zurecht und vergleichen ihren Zu-<lb/>
stand einem schweren Traum, ihre Genesung einem Erwachen.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 101.</head><lb/>
              <p>Doch ist nicht immer während der Dauer dieser Form der Schwer-<lb/>
muth eine solche Mannigfaltigkeit widriger Empfindungen, Vorstellungen<lb/>
und Bilder, wie kaum erwähnt wurde, vorhanden; manchmal ist es<lb/>
mehr ein Halbschlaf ohne deutliche Träume, ohne jene lebhaften<lb/>
Hallucinationen etc., ein der Aussenwelt entfremdetes Insichversinken,<lb/>
dem wenig geblieben ist, als das Gefühl tiefer innerer Verstörtheit<lb/>
und Willenlosigkeit, wo die psychischen Processe allerdings eine Art von<lb/>
Suspension erleiden, der Kranke aber doch ein Bewusstsein dieses<lb/>
seines Zustandes hat. Vielleicht scheint es zuweilen auch nur so,<lb/>
wenn die Kranken später ungenügende Rechenschaft von ihrem Zu-<lb/>
stande zu geben, oder sich desselben nur so schwach zu erinnern<lb/>
vermögen, dass keine so auffallende psychische Anomalieen zu<lb/>
Tage kommen.</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[188/0202] Die Schwermuth der Aufhebung des Strebens und dem exclusiven traurigen Delirium Hallucinationen und Illusionen von demselben Character. Der Kranke hört Stimmen, die ihm Vorwürfe machen, ihn beschimpfen, ihn mit dem Tode bedrohen, oder einen confusen Lärm von Glocken, Trommeln, Kanonen etc.; er sieht Gespenster, Leichenzüge, unterirdische Ge- wölbe, Vulcancrater, die sich vor seinen Füssen öffnen, er sieht zu, wie man seine liebsten Angehörigen martert etc. Er glaubt sich in einer Wüste, in der Hölle, auf den Galeeren zu befinden etc.; kurz der völlig veränderte subjective Antheil an der Sinnesperception und die daraus hervorgehende Umgestaltung aller Eindrücke lässt ihm alles Aeussere, was er noch percipirt, nur in Formen und Bildern erscheinen, die dem herrschenden Affecte adäquat sind (vgl. die Beispiele). In vielen Beziehungen hat dieser Zustand die grösste Aehnlich- keit mit einem Halbschlaf- und Traumzustande. Die Entstehung der schmerzlichen, widrigen Affecte, Vorstellungen und Bilder im Gehirn findet dabei ihre vollkommene Analogie in dem Auftreten sonderbarer, neuer, widerwärtiger Empfindungen (Formication, Stechen, Kälte etc.) in dem abgestumpften (eingeschlafenen) sensitiven Nerven, und wir werden diese Vergleichung um so passender finden, da in einer ziemlichen Anzahl hierher gehöriger Fälle ein offenbarer Gehirndruck sich nachweisen lässt. Die Kranken selbst, wenn sie wieder anfangen, lebhafter zu werden, selbst zu essen, sich zu beschäftigen, kurz sich zu erholen, sind erstaunt wie Erwachende, fragen oft, wo sie denn seien, finden sich erst allmählig zurecht und vergleichen ihren Zu- stand einem schweren Traum, ihre Genesung einem Erwachen. §. 101. Doch ist nicht immer während der Dauer dieser Form der Schwer- muth eine solche Mannigfaltigkeit widriger Empfindungen, Vorstellungen und Bilder, wie kaum erwähnt wurde, vorhanden; manchmal ist es mehr ein Halbschlaf ohne deutliche Träume, ohne jene lebhaften Hallucinationen etc., ein der Aussenwelt entfremdetes Insichversinken, dem wenig geblieben ist, als das Gefühl tiefer innerer Verstörtheit und Willenlosigkeit, wo die psychischen Processe allerdings eine Art von Suspension erleiden, der Kranke aber doch ein Bewusstsein dieses seines Zustandes hat. Vielleicht scheint es zuweilen auch nur so, wenn die Kranken später ungenügende Rechenschaft von ihrem Zu- stande zu geben, oder sich desselben nur so schwach zu erinnern vermögen, dass keine so auffallende psychische Anomalieen zu Tage kommen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/202
Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/202>, abgerufen am 21.11.2024.