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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Verlauf der Schwermuth.
§. 97.

Der Verlauf der einfacheren Formen der Melancholie ist oft
sehr acut, da z. B. wo ein ganz kurzes Stadium schmerzlicher Ge-
müthsverstimmung mit tiefer Angst der Entwicklung der Manie, nament-
lich auch der intermittirenden, vorausgeht. In der Regel aber ist der
Verlauf der Schwermuth chronisch, mit Remissionen, seltener mit voll-
ständigen Intermissionen von verschiedener Dauer. Einmal haben wir
bei einer tief Melancholischen (Vorstellungen gänzlichen Vermögensver-
lustes, verhungern zu müssen etc.) ein vollständiges lucidum intervallum,
kaum eine Viertelstunde andauernd, ohne alle bemerkbare äussere
Veranlassung entstehen, und ebenso plötzlich wieder verschwinden
sehen. Die Remissionen sind natürlich im Beginn der Schwermuth
und wieder bei Annäherung an die Reconvalescenz am häufigsten.

Uebergänge in Manie und Wechsel dieser Form mit der Schwer-
muth sind sehr gewöhnlich; nicht selten besteht die ganze Krankheit
aus einem Cyclus beider Formen, welche oft ganz regelmässig ab-
wechseln. Andere Beobachter und wir selbst haben Fälle gesehen,
wo zu einer gewissen Jahreszeit, z. B. im Winter, tiefe Schwermuth
sich einstellt, und diese im Frühling in Manie übergeht, welche im
Herbst allmählig wieder zur Melancholie herabsinkt. -- Ein sehr
mässiger Grad von Melancholie mit bedeutenden Remissionen kann
viele Jahre lang bestehen; solche Kranke kommen selten und nur
bei Exacerbationen oder intercurrirenden Anfällen von Tobsucht, in
die Irren-Anstalten; sie können sich meist in ihren gewohnten Ver-
hältnissen erhalten, und sind die Qual ihrer Umgebung und der
Gegenstand vielseitiger schiefer Beurtheilung von Seiten der Aerzte
und Laien.

Die anhaltende Form der Schwermuth von noch mässiger Inten-
sität dauert gewöhnlich bei einer, nur nicht positiv unzweckmässigen
Behandlung, ein halbes Jahr bis zu einem Jahr. Es ist durch eine
grosse Anzahl von Beobachtungen als unzweifelhaft zu betrachten,
dass intercurrirende acute, wie auch neu sich entwicklende chronische
Krankheiten oft von günstigem Einflusse auf die Melancholie sind, so
dass diese mit dem Auftreten jener aufhört. Zu jenen gehört z. B.
die Salivation, die Entwicklung von Exanthemen, von intermittirenden
Fiebern, zu diesen die Tuberculose. Um so weniger aber wollen sich
diese Thatsachen den Begriffen der alten Crisenlehre fügen, als es
eben nicht selten Neurosen ohne palpable Ausscheidungen sind (Spi-

Verlauf der Schwermuth.
§. 97.

Der Verlauf der einfacheren Formen der Melancholie ist oft
sehr acut, da z. B. wo ein ganz kurzes Stadium schmerzlicher Ge-
müthsverstimmung mit tiefer Angst der Entwicklung der Manie, nament-
lich auch der intermittirenden, vorausgeht. In der Regel aber ist der
Verlauf der Schwermuth chronisch, mit Remissionen, seltener mit voll-
ständigen Intermissionen von verschiedener Dauer. Einmal haben wir
bei einer tief Melancholischen (Vorstellungen gänzlichen Vermögensver-
lustes, verhungern zu müssen etc.) ein vollständiges lucidum intervallum,
kaum eine Viertelstunde andauernd, ohne alle bemerkbare äussere
Veranlassung entstehen, und ebenso plötzlich wieder verschwinden
sehen. Die Remissionen sind natürlich im Beginn der Schwermuth
und wieder bei Annäherung an die Reconvalescenz am häufigsten.

Uebergänge in Manie und Wechsel dieser Form mit der Schwer-
muth sind sehr gewöhnlich; nicht selten besteht die ganze Krankheit
aus einem Cyclus beider Formen, welche oft ganz regelmässig ab-
wechseln. Andere Beobachter und wir selbst haben Fälle gesehen,
wo zu einer gewissen Jahreszeit, z. B. im Winter, tiefe Schwermuth
sich einstellt, und diese im Frühling in Manie übergeht, welche im
Herbst allmählig wieder zur Melancholie herabsinkt. — Ein sehr
mässiger Grad von Melancholie mit bedeutenden Remissionen kann
viele Jahre lang bestehen; solche Kranke kommen selten und nur
bei Exacerbationen oder intercurrirenden Anfällen von Tobsucht, in
die Irren-Anstalten; sie können sich meist in ihren gewohnten Ver-
hältnissen erhalten, und sind die Qual ihrer Umgebung und der
Gegenstand vielseitiger schiefer Beurtheilung von Seiten der Aerzte
und Laien.

Die anhaltende Form der Schwermuth von noch mässiger Inten-
sität dauert gewöhnlich bei einer, nur nicht positiv unzweckmässigen
Behandlung, ein halbes Jahr bis zu einem Jahr. Es ist durch eine
grosse Anzahl von Beobachtungen als unzweifelhaft zu betrachten,
dass intercurrirende acute, wie auch neu sich entwicklende chronische
Krankheiten oft von günstigem Einflusse auf die Melancholie sind, so
dass diese mit dem Auftreten jener aufhört. Zu jenen gehört z. B.
die Salivation, die Entwicklung von Exanthemen, von intermittirenden
Fiebern, zu diesen die Tuberculose. Um so weniger aber wollen sich
diese Thatsachen den Begriffen der alten Crisenlehre fügen, als es
eben nicht selten Neurosen ohne palpable Ausscheidungen sind (Spi-

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[175/0189] Verlauf der Schwermuth. §. 97. Der Verlauf der einfacheren Formen der Melancholie ist oft sehr acut, da z. B. wo ein ganz kurzes Stadium schmerzlicher Ge- müthsverstimmung mit tiefer Angst der Entwicklung der Manie, nament- lich auch der intermittirenden, vorausgeht. In der Regel aber ist der Verlauf der Schwermuth chronisch, mit Remissionen, seltener mit voll- ständigen Intermissionen von verschiedener Dauer. Einmal haben wir bei einer tief Melancholischen (Vorstellungen gänzlichen Vermögensver- lustes, verhungern zu müssen etc.) ein vollständiges lucidum intervallum, kaum eine Viertelstunde andauernd, ohne alle bemerkbare äussere Veranlassung entstehen, und ebenso plötzlich wieder verschwinden sehen. Die Remissionen sind natürlich im Beginn der Schwermuth und wieder bei Annäherung an die Reconvalescenz am häufigsten. Uebergänge in Manie und Wechsel dieser Form mit der Schwer- muth sind sehr gewöhnlich; nicht selten besteht die ganze Krankheit aus einem Cyclus beider Formen, welche oft ganz regelmässig ab- wechseln. Andere Beobachter und wir selbst haben Fälle gesehen, wo zu einer gewissen Jahreszeit, z. B. im Winter, tiefe Schwermuth sich einstellt, und diese im Frühling in Manie übergeht, welche im Herbst allmählig wieder zur Melancholie herabsinkt. — Ein sehr mässiger Grad von Melancholie mit bedeutenden Remissionen kann viele Jahre lang bestehen; solche Kranke kommen selten und nur bei Exacerbationen oder intercurrirenden Anfällen von Tobsucht, in die Irren-Anstalten; sie können sich meist in ihren gewohnten Ver- hältnissen erhalten, und sind die Qual ihrer Umgebung und der Gegenstand vielseitiger schiefer Beurtheilung von Seiten der Aerzte und Laien. Die anhaltende Form der Schwermuth von noch mässiger Inten- sität dauert gewöhnlich bei einer, nur nicht positiv unzweckmässigen Behandlung, ein halbes Jahr bis zu einem Jahr. Es ist durch eine grosse Anzahl von Beobachtungen als unzweifelhaft zu betrachten, dass intercurrirende acute, wie auch neu sich entwicklende chronische Krankheiten oft von günstigem Einflusse auf die Melancholie sind, so dass diese mit dem Auftreten jener aufhört. Zu jenen gehört z. B. die Salivation, die Entwicklung von Exanthemen, von intermittirenden Fiebern, zu diesen die Tuberculose. Um so weniger aber wollen sich diese Thatsachen den Begriffen der alten Crisenlehre fügen, als es eben nicht selten Neurosen ohne palpable Ausscheidungen sind (Spi-

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/189>, abgerufen am 21.11.2024.