Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite
Die somatischen Ursachen.

Auch hier ist vor einer Verwechslung zu warnen. Es ist nicht ganz selten,
dass im Beginn des Irreseins (oder vielmehr beim Uebergang eines mässigen Sta-
dium melancholicum in das Stadium maniacum) der Kranke einen gesteigerten
Geschlechtstrieb äussert, der zu schamlos getriebener Onanie oder zum Herum-
treiben in Bordellen Anlass werden kann. Man muss hierin schon ein Symptom,
nicht eine Ursache des Irreseins sehen. In manchen Fällen wird man auch da,
wo die sexuellen Excesse wirklich der Zeit nach als Ursache des Irreseins er-
scheinen, jene selbst nur als nächste Folgen eines krankhaften Reizes, einer
schon länger bestehenden Irritation der betreffenden Parthieen des Nervensystems
anzusehen haben; namentlich aber lässt die im frühen Lebensalter, schon lange
vor der Pubertät, von selbst, ohne Unterweisung entstandene Onanie fast mit
Sicherheit auf eine krankhafte Reizbarkeit der Genitalien schliessen, die (p. 119)
mit der ganzen nervösen Constitution und mit einer primitiven Anlage zu Geistes-
krankheiten zusammentrifft.


Viertes Kapitel.
Somatische Ursachen.
§. 81.

Da wir (nach §. 64. und §. 77.) eine rein statistische Lösung der Frage,
ob das Irresein häufiger aus psychischen oder somatischen Ursachen ent-
stehe, nicht für zulässig halten, so kann die Besprechung der hierherge-
hörigen Zählungen (von Pinel bis heute) unterbleiben, indem der Leser in
Betreff der neuesten Untersuchungen hierüber auf den zwischen Moreau
de Jonnes einerseits und Parchappe und Brierre andrerseits *) ge-
führten Streit mit der Erinnerung verwiesen wird, dass alle solche
Tabellen um so unzuverlässigere und nichtigere Resultate geben, je
unbestimmter und abstracter gehalten die einzelnen Rubriken sind **)
und je unsorgfältiger der Idiotismus von den übrigen Geisteskrank-
heiten getrennt wird ***). -- Es ist keine Frage, dass das Irresein
in vielen Fällen durch rein körperliche Ursachen entstehen kann, dass
andrerseits unter ihrer Mitwirkung die psychischen Causalmomente
weit eher und ganz vorzüglich zur Entstehung der Geisteskrankheiten
führen. Eine erbliche oder erworbene Disposition lässt sich dann

*) Comptes-rendus de l'academie des sciences. XVII. 1843.
**) Moreau hat z. B. eine ganz unverständliche und nichtssagende Categorie
"Irritation excessive" mit einer grossen Zahl.
***) Derselbe Autor führt den Idiotismus mit einer enormen Zahl, als eine
der körperlichen Ursachen (!) der Geisteskrankheiten auf.
Die somatischen Ursachen.

Auch hier ist vor einer Verwechslung zu warnen. Es ist nicht ganz selten,
dass im Beginn des Irreseins (oder vielmehr beim Uebergang eines mässigen Sta-
dium melancholicum in das Stadium maniacum) der Kranke einen gesteigerten
Geschlechtstrieb äussert, der zu schamlos getriebener Onanie oder zum Herum-
treiben in Bordellen Anlass werden kann. Man muss hierin schon ein Symptom,
nicht eine Ursache des Irreseins sehen. In manchen Fällen wird man auch da,
wo die sexuellen Excesse wirklich der Zeit nach als Ursache des Irreseins er-
scheinen, jene selbst nur als nächste Folgen eines krankhaften Reizes, einer
schon länger bestehenden Irritation der betreffenden Parthieen des Nervensystems
anzusehen haben; namentlich aber lässt die im frühen Lebensalter, schon lange
vor der Pubertät, von selbst, ohne Unterweisung entstandene Onanie fast mit
Sicherheit auf eine krankhafte Reizbarkeit der Genitalien schliessen, die (p. 119)
mit der ganzen nervösen Constitution und mit einer primitiven Anlage zu Geistes-
krankheiten zusammentrifft.


Viertes Kapitel.
Somatische Ursachen.
§. 81.

Da wir (nach §. 64. und §. 77.) eine rein statistische Lösung der Frage,
ob das Irresein häufiger aus psychischen oder somatischen Ursachen ent-
stehe, nicht für zulässig halten, so kann die Besprechung der hierherge-
hörigen Zählungen (von Pinel bis heute) unterbleiben, indem der Leser in
Betreff der neuesten Untersuchungen hierüber auf den zwischen Moreau
de Jonnès einerseits und Parchappe und Brierre andrerseits *) ge-
führten Streit mit der Erinnerung verwiesen wird, dass alle solche
Tabellen um so unzuverlässigere und nichtigere Resultate geben, je
unbestimmter und abstracter gehalten die einzelnen Rubriken sind **)
und je unsorgfältiger der Idiotismus von den übrigen Geisteskrank-
heiten getrennt wird ***). — Es ist keine Frage, dass das Irresein
in vielen Fällen durch rein körperliche Ursachen entstehen kann, dass
andrerseits unter ihrer Mitwirkung die psychischen Causalmomente
weit eher und ganz vorzüglich zur Entstehung der Geisteskrankheiten
führen. Eine erbliche oder erworbene Disposition lässt sich dann

*) Comptes-rendus de l’académie des sciences. XVII. 1843.
**) Moreau hat z. B. eine ganz unverständliche und nichtssagende Categorie
„Irritation excessive“ mit einer grossen Zahl.
***) Derselbe Autor führt den Idiotismus mit einer enormen Zahl, als eine
der körperlichen Ursachen (!) der Geisteskrankheiten auf.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0148" n="134"/>
              <fw place="top" type="header">Die somatischen Ursachen.</fw><lb/>
              <p>Auch hier ist vor einer Verwechslung zu warnen. Es ist nicht ganz selten,<lb/>
dass im Beginn des Irreseins (oder vielmehr beim Uebergang eines mässigen Sta-<lb/>
dium melancholicum in das Stadium maniacum) der Kranke einen gesteigerten<lb/>
Geschlechtstrieb äussert, der zu schamlos getriebener Onanie oder zum Herum-<lb/>
treiben in Bordellen Anlass werden kann. Man muss hierin schon ein Symptom,<lb/>
nicht eine Ursache des Irreseins sehen. In manchen Fällen wird man auch da,<lb/>
wo die sexuellen Excesse wirklich der Zeit nach als Ursache des Irreseins er-<lb/>
scheinen, jene selbst nur als nächste Folgen eines krankhaften Reizes, einer<lb/>
schon länger bestehenden Irritation der betreffenden Parthieen des Nervensystems<lb/>
anzusehen haben; namentlich aber lässt die im frühen Lebensalter, schon lange<lb/>
vor der Pubertät, von selbst, ohne Unterweisung entstandene Onanie fast mit<lb/>
Sicherheit auf eine krankhafte Reizbarkeit der Genitalien schliessen, die (p. 119)<lb/>
mit der ganzen nervösen Constitution und mit einer primitiven Anlage zu Geistes-<lb/>
krankheiten zusammentrifft.</p>
            </div>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <head><hi rendition="#b">Viertes Kapitel.</hi><lb/><hi rendition="#i">Somatische Ursachen</hi>.</head><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 81.</head><lb/>
              <p>Da wir (nach §. 64. und §. 77.) eine rein statistische Lösung der Frage,<lb/>
ob das Irresein häufiger aus psychischen oder somatischen Ursachen ent-<lb/>
stehe, nicht für zulässig halten, so kann die Besprechung der hierherge-<lb/>
hörigen Zählungen (von Pinel bis heute) unterbleiben, indem der Leser in<lb/>
Betreff der neuesten Untersuchungen hierüber auf den zwischen Moreau<lb/>
de Jonnès einerseits und Parchappe und Brierre andrerseits <note place="foot" n="*)">Comptes-rendus de l&#x2019;académie des sciences. XVII. 1843.</note> ge-<lb/>
führten Streit mit der Erinnerung verwiesen wird, dass alle solche<lb/>
Tabellen um so unzuverlässigere und nichtigere Resultate geben, je<lb/>
unbestimmter und abstracter gehalten die einzelnen Rubriken sind <note place="foot" n="**)">Moreau hat z. B. eine ganz unverständliche und nichtssagende Categorie<lb/>
&#x201E;Irritation excessive&#x201C; mit einer grossen Zahl.</note><lb/>
und je unsorgfältiger der Idiotismus von den übrigen Geisteskrank-<lb/>
heiten getrennt wird <note place="foot" n="***)">Derselbe Autor führt den Idiotismus mit einer enormen Zahl, als eine<lb/>
der körperlichen <hi rendition="#g">Ursachen</hi> (!) der Geisteskrankheiten auf.</note>. &#x2014; Es ist keine Frage, dass das Irresein<lb/>
in vielen Fällen durch rein körperliche Ursachen entstehen kann, dass<lb/>
andrerseits unter ihrer Mitwirkung die psychischen Causalmomente<lb/>
weit eher und ganz vorzüglich zur Entstehung der Geisteskrankheiten<lb/>
führen. Eine erbliche oder erworbene Disposition lässt sich dann<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[134/0148] Die somatischen Ursachen. Auch hier ist vor einer Verwechslung zu warnen. Es ist nicht ganz selten, dass im Beginn des Irreseins (oder vielmehr beim Uebergang eines mässigen Sta- dium melancholicum in das Stadium maniacum) der Kranke einen gesteigerten Geschlechtstrieb äussert, der zu schamlos getriebener Onanie oder zum Herum- treiben in Bordellen Anlass werden kann. Man muss hierin schon ein Symptom, nicht eine Ursache des Irreseins sehen. In manchen Fällen wird man auch da, wo die sexuellen Excesse wirklich der Zeit nach als Ursache des Irreseins er- scheinen, jene selbst nur als nächste Folgen eines krankhaften Reizes, einer schon länger bestehenden Irritation der betreffenden Parthieen des Nervensystems anzusehen haben; namentlich aber lässt die im frühen Lebensalter, schon lange vor der Pubertät, von selbst, ohne Unterweisung entstandene Onanie fast mit Sicherheit auf eine krankhafte Reizbarkeit der Genitalien schliessen, die (p. 119) mit der ganzen nervösen Constitution und mit einer primitiven Anlage zu Geistes- krankheiten zusammentrifft. Viertes Kapitel. Somatische Ursachen. §. 81. Da wir (nach §. 64. und §. 77.) eine rein statistische Lösung der Frage, ob das Irresein häufiger aus psychischen oder somatischen Ursachen ent- stehe, nicht für zulässig halten, so kann die Besprechung der hierherge- hörigen Zählungen (von Pinel bis heute) unterbleiben, indem der Leser in Betreff der neuesten Untersuchungen hierüber auf den zwischen Moreau de Jonnès einerseits und Parchappe und Brierre andrerseits *) ge- führten Streit mit der Erinnerung verwiesen wird, dass alle solche Tabellen um so unzuverlässigere und nichtigere Resultate geben, je unbestimmter und abstracter gehalten die einzelnen Rubriken sind **) und je unsorgfältiger der Idiotismus von den übrigen Geisteskrank- heiten getrennt wird ***). — Es ist keine Frage, dass das Irresein in vielen Fällen durch rein körperliche Ursachen entstehen kann, dass andrerseits unter ihrer Mitwirkung die psychischen Causalmomente weit eher und ganz vorzüglich zur Entstehung der Geisteskrankheiten führen. Eine erbliche oder erworbene Disposition lässt sich dann *) Comptes-rendus de l’académie des sciences. XVII. 1843. **) Moreau hat z. B. eine ganz unverständliche und nichtssagende Categorie „Irritation excessive“ mit einer grossen Zahl. ***) Derselbe Autor führt den Idiotismus mit einer enormen Zahl, als eine der körperlichen Ursachen (!) der Geisteskrankheiten auf.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/148
Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/148>, abgerufen am 21.12.2024.