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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Die Gehirnhyperämie und

Die Möglichkeit wahrer Gehirnhyperämie überhaupt, welche bekanntlich von
einzelnen Pathologen (Abercrombie) *) in Zweifel gezogen worden ist, halten wir für
genügend durch directe anatomische Beobachtung erwiesen; bei jeder wirklichen
Vermehrung des Blutgehalts wird dann allerdings entweder eine mässige Com-
pression der Gehirnsubstanz oder einiges Zurückweichen der Cerebrospinalflüssig-
keit aus dem Schädel in den Wirbelcanal eintreten müssen. Dagegen stimmen
wir Abercombie darin ganz bei, dass es Blut stagnationen, auch ohne wirkliche
Vermehrung der ganzen im Schädel circulirenden Blutmasse, gebe, welche aus
vermindertem arteriellem Impetus hervorgehen. Bei einer bedeutenden Schwäche
der Herzcentractionen, bei Verknöcherung der Gehirnarterien, wo deren Elasticität
das Fortrücken der Blutwelle nicht mehr unterstützt, fliesst das Blut langsamer,
als sonst, durch das Gehirn, es nimmt desshalb eine venösere Beschaffenheit an,
und es kann diese nicht ohne Einfluss auf die Functionen bleiben. Es ist keine
unwahrscheinliche Hypothese, dass auf solchen Verhältnissen, daneben auf Ab-
weichungen in der Statik (und der chemischen Constitution) des Cerebrospinalflui-
dums, manche Anomalieen der Gehirnthätigkeit beruhen mögen, welche man
aus Mangel an handgreiflichen anatomischen Veränderungen derzeit noch als
nervöse Irritationen betrachten muss.

§. 76.

Was die nähere Entstehungsweise dieser Gehirnhyperämieen
betrifft, so sind sie

1) sogenannte active. Leider ist hier im Gehirn, so wenig
als in andern Organen, der Mechanismus der activen Hyperämieen
gehörig verständlich und die mehr oder weniger hypothetischen
Annahmen einer vermehrten Attraction des Bluts durch das Gewebe,
einer (wahrscheinlicheren) Erschlaffung der Haargefässwandungen etc.
können die Sache nicht ganz erschöpfen. Eine wahrhaft active, d. h.
wirklich durch einen vermehrten Zustrom a tergo gesetzte Gehirnhyper-
ämie sehen wir eigentlich nur bei der Hypertrophie des linken
Herzventrikels, besonders bei gleichzeitiger Verengerung der abstei-
genden Aorta.

2) Weit fasslicher in ihrer Entstehungsweise und ohne Zweifel
auch weit häufiger, als die active Hyperämie des Gehirns, ist bei den
Geisteskranken die s. g. passive, venöse Hyperämie. Zahlreiche
Beobachter, als deren Repräsentanten wir vor Allem Guislain **) nennen,
haben längst darauf aufmerksam gemacht, wie die Kopfcongestion
der Irren in der Mehrzahl der Fälle keine "entzündliche" sei, sondern

*) Malad. de l'encephale, p. Gendrin. Par. 1835. p. 432. seqq. Vgl. Kellie, über
den Tod durch Kälte und über Gehirncongestionen; in Nasses Sammlung für Ge-
hirnkrankheiten. I. 1837. p. 21. Burrows, in Lond. Med. Gaz. 1843. Merz. April.
**) Die Phrenopathieen, übers. von Wunderlich p. 96. seqq. p. 117. seqq.
Die Gehirnhyperämie und

Die Möglichkeit wahrer Gehirnhyperämie überhaupt, welche bekanntlich von
einzelnen Pathologen (Abercrombie) *) in Zweifel gezogen worden ist, halten wir für
genügend durch directe anatomische Beobachtung erwiesen; bei jeder wirklichen
Vermehrung des Blutgehalts wird dann allerdings entweder eine mässige Com-
pression der Gehirnsubstanz oder einiges Zurückweichen der Cerebrospinalflüssig-
keit aus dem Schädel in den Wirbelcanal eintreten müssen. Dagegen stimmen
wir Abercombie darin ganz bei, dass es Blut stagnationen, auch ohne wirkliche
Vermehrung der ganzen im Schädel circulirenden Blutmasse, gebe, welche aus
vermindertem arteriellem Impetus hervorgehen. Bei einer bedeutenden Schwäche
der Herzcentractionen, bei Verknöcherung der Gehirnarterien, wo deren Elasticität
das Fortrücken der Blutwelle nicht mehr unterstützt, fliesst das Blut langsamer,
als sonst, durch das Gehirn, es nimmt desshalb eine venösere Beschaffenheit an,
und es kann diese nicht ohne Einfluss auf die Functionen bleiben. Es ist keine
unwahrscheinliche Hypothese, dass auf solchen Verhältnissen, daneben auf Ab-
weichungen in der Statik (und der chemischen Constitution) des Cerebrospinalflui-
dums, manche Anomalieen der Gehirnthätigkeit beruhen mögen, welche man
aus Mangel an handgreiflichen anatomischen Veränderungen derzeit noch als
nervöse Irritationen betrachten muss.

§. 76.

Was die nähere Entstehungsweise dieser Gehirnhyperämieen
betrifft, so sind sie

1) sogenannte active. Leider ist hier im Gehirn, so wenig
als in andern Organen, der Mechanismus der activen Hyperämieen
gehörig verständlich und die mehr oder weniger hypothetischen
Annahmen einer vermehrten Attraction des Bluts durch das Gewebe,
einer (wahrscheinlicheren) Erschlaffung der Haargefässwandungen etc.
können die Sache nicht ganz erschöpfen. Eine wahrhaft active, d. h.
wirklich durch einen vermehrten Zustrom a tergo gesetzte Gehirnhyper-
ämie sehen wir eigentlich nur bei der Hypertrophie des linken
Herzventrikels, besonders bei gleichzeitiger Verengerung der abstei-
genden Aorta.

2) Weit fasslicher in ihrer Entstehungsweise und ohne Zweifel
auch weit häufiger, als die active Hyperämie des Gehirns, ist bei den
Geisteskranken die s. g. passive, venöse Hyperämie. Zahlreiche
Beobachter, als deren Repräsentanten wir vor Allem Guislain **) nennen,
haben längst darauf aufmerksam gemacht, wie die Kopfcongestion
der Irren in der Mehrzahl der Fälle keine „entzündliche“ sei, sondern

*) Malad. de l’encéphale, p. Gendrin. Par. 1835. p. 432. seqq. Vgl. Kellie, über
den Tod durch Kälte und über Gehirncongestionen; in Nasses Sammlung für Ge-
hirnkrankheiten. I. 1837. p. 21. Burrows, in Lond. Med. Gaz. 1843. Merz. April.
**) Die Phrenopathieen, übers. von Wunderlich p. 96. seqq. p. 117. seqq.
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[122/0136] Die Gehirnhyperämie und Die Möglichkeit wahrer Gehirnhyperämie überhaupt, welche bekanntlich von einzelnen Pathologen (Abercrombie) *) in Zweifel gezogen worden ist, halten wir für genügend durch directe anatomische Beobachtung erwiesen; bei jeder wirklichen Vermehrung des Blutgehalts wird dann allerdings entweder eine mässige Com- pression der Gehirnsubstanz oder einiges Zurückweichen der Cerebrospinalflüssig- keit aus dem Schädel in den Wirbelcanal eintreten müssen. Dagegen stimmen wir Abercombie darin ganz bei, dass es Blut stagnationen, auch ohne wirkliche Vermehrung der ganzen im Schädel circulirenden Blutmasse, gebe, welche aus vermindertem arteriellem Impetus hervorgehen. Bei einer bedeutenden Schwäche der Herzcentractionen, bei Verknöcherung der Gehirnarterien, wo deren Elasticität das Fortrücken der Blutwelle nicht mehr unterstützt, fliesst das Blut langsamer, als sonst, durch das Gehirn, es nimmt desshalb eine venösere Beschaffenheit an, und es kann diese nicht ohne Einfluss auf die Functionen bleiben. Es ist keine unwahrscheinliche Hypothese, dass auf solchen Verhältnissen, daneben auf Ab- weichungen in der Statik (und der chemischen Constitution) des Cerebrospinalflui- dums, manche Anomalieen der Gehirnthätigkeit beruhen mögen, welche man aus Mangel an handgreiflichen anatomischen Veränderungen derzeit noch als nervöse Irritationen betrachten muss. §. 76. Was die nähere Entstehungsweise dieser Gehirnhyperämieen betrifft, so sind sie 1) sogenannte active. Leider ist hier im Gehirn, so wenig als in andern Organen, der Mechanismus der activen Hyperämieen gehörig verständlich und die mehr oder weniger hypothetischen Annahmen einer vermehrten Attraction des Bluts durch das Gewebe, einer (wahrscheinlicheren) Erschlaffung der Haargefässwandungen etc. können die Sache nicht ganz erschöpfen. Eine wahrhaft active, d. h. wirklich durch einen vermehrten Zustrom a tergo gesetzte Gehirnhyper- ämie sehen wir eigentlich nur bei der Hypertrophie des linken Herzventrikels, besonders bei gleichzeitiger Verengerung der abstei- genden Aorta. 2) Weit fasslicher in ihrer Entstehungsweise und ohne Zweifel auch weit häufiger, als die active Hyperämie des Gehirns, ist bei den Geisteskranken die s. g. passive, venöse Hyperämie. Zahlreiche Beobachter, als deren Repräsentanten wir vor Allem Guislain **) nennen, haben längst darauf aufmerksam gemacht, wie die Kopfcongestion der Irren in der Mehrzahl der Fälle keine „entzündliche“ sei, sondern *) Malad. de l’encéphale, p. Gendrin. Par. 1835. p. 432. seqq. Vgl. Kellie, über den Tod durch Kälte und über Gehirncongestionen; in Nasses Sammlung für Ge- hirnkrankheiten. I. 1837. p. 21. Burrows, in Lond. Med. Gaz. 1843. Merz. April. **) Die Phrenopathieen, übers. von Wunderlich p. 96. seqq. p. 117. seqq.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/136>, abgerufen am 21.11.2024.