Vorfällen zugeschrieben wird, das sich bei näherer Untersuchung als ein schon viele Jahre bestandenes und ganz eingewurzeltes zeigt. Schon Pinel erzählt den Fall einer Kranken, die angeblich 9 Monate an Irresein leiden sollte, in der That aber schon 15 Jahre lang geisteskrank war.
Die deutsche Psychiatrie hat das Verdienst, immer die Aetiologie und Patho- genie des Irreseins tiefer und richtiger aufgefasst und glücklicher bearbeitet zu haben, als die französischen Schulen. Während diese noch bis in die neueste Zeit (Moreau de Jonnes, Brierre, Parchappe) bei ihren ganz abstract gehaltenen Tabellen psychischer und moralischer Ursachen stehen bleiben, in denen Trunk- sucht, Epilepsie, Ehrgeiz, Prostitution, Politik, Vermögensverlust und dergl. als gleichwerthige Categorieen von Ursachen neben einander stehen, haben die deutschen Irrenärzte (Heinroth und Ideler von psychischer Seite, Bergmann, Flemming, Jakobi, Jessen, Nasse, Zeller und A. theils mit vorzüglicher Berücksichtigung der somatischen Ursachen, theils allseitig) schon seit langer Zeit auf genaues Individualisiren in Bezug auf die Ursachen des einzelnen Falls gedrungen, und es hat sich bei uns immer mehr eine Betrachtungsweise festgestellt, welche die sorgfältige Berücksichtigung aller Momente in ihrem Zusammenhange und Zu- sammenwirken auf die Entwickelung des Krankheitszustandes fordert.
§. 64.
Ein näheres Eingehen in die Aetiologie des Irreseins zeigt näm- lich alsbald, wie es in der ausserordentlichen Mehrzahl der Fälle nicht eine einzige specifische Ursache, sondern ein Complex mehrer, zum Theil sehr vieler und verwickelter schädlicher Momente war, unter deren Einflusse die Krankheit endlich zu Stande kam. Nicht selten wird der Keim des Erkrankens schon in jenen frühen Lebensperioden gelegt, wo sich die Anfänge des Charakters bilden; wächst er durch Erziehung und äussere Erlebnisse, oder trotz ihnen, so ist es nur selten, dass der excedirende Stand der psychischen Irritabilität ganz von selbst allmählig und durch kaum merkliche Zwi- schenstufen den Grad auffallender psychischer Functionsstörung er- reicht; viel häufiger sind es mehre, mannigfaltige psychische Eindrücke und körperliche Störungen, unter deren successiver Einwirkung oder ungünstigem Zusammentreffen sich die Krankheit ausbildet, und sie ist dann nicht einem einzelnen dieser Momente, sondern nur ihrer Totalität zuzuschreiben. So sieht man in den concreten Fällen z. B. langwierige Trunksucht und einen sehr heftigen Affect, anderemale erbliche Disposition, häuslichen Unfrieden und eine Herzkrankheit, dann wieder Wochenbett und einen heftigen Aerger oder Schrecken, oder unglückliche Liebe und beginnende Tuberculose, kurz gewöhnlich mehre verschiedene üble Einwirkungen auf den Organismus oder schon begründete Krankheitszustände -- oft noch weit vielfacher und compli- cirter als in diesen Beispielen -- als Ursachen des Irreseins auftreten.
Zusammengesetztheit der Ursachen.
Vorfällen zugeschrieben wird, das sich bei näherer Untersuchung als ein schon viele Jahre bestandenes und ganz eingewurzeltes zeigt. Schon Pinel erzählt den Fall einer Kranken, die angeblich 9 Monate an Irresein leiden sollte, in der That aber schon 15 Jahre lang geisteskrank war.
Die deutsche Psychiatrie hat das Verdienst, immer die Aetiologie und Patho- genie des Irreseins tiefer und richtiger aufgefasst und glücklicher bearbeitet zu haben, als die französischen Schulen. Während diese noch bis in die neueste Zeit (Moreau de Jonnès, Brierre, Parchappe) bei ihren ganz abstract gehaltenen Tabellen psychischer und moralischer Ursachen stehen bleiben, in denen Trunk- sucht, Epilepsie, Ehrgeiz, Prostitútion, Politik, Vermögensverlust und dergl. als gleichwerthige Categorieen von Ursachen neben einander stehen, haben die deutschen Irrenärzte (Heinroth und Ideler von psychischer Seite, Bergmann, Flemming, Jakobi, Jessen, Nasse, Zeller und A. theils mit vorzüglicher Berücksichtigung der somatischen Ursachen, theils allseitig) schon seit langer Zeit auf genaues Individualisiren in Bezug auf die Ursachen des einzelnen Falls gedrungen, und es hat sich bei uns immer mehr eine Betrachtungsweise festgestellt, welche die sorgfältige Berücksichtigung aller Momente in ihrem Zusammenhange und Zu- sammenwirken auf die Entwickelung des Krankheitszustandes fordert.
§. 64.
Ein näheres Eingehen in die Aetiologie des Irreseins zeigt näm- lich alsbald, wie es in der ausserordentlichen Mehrzahl der Fälle nicht eine einzige specifische Ursache, sondern ein Complex mehrer, zum Theil sehr vieler und verwickelter schädlicher Momente war, unter deren Einflusse die Krankheit endlich zu Stande kam. Nicht selten wird der Keim des Erkrankens schon in jenen frühen Lebensperioden gelegt, wo sich die Anfänge des Charakters bilden; wächst er durch Erziehung und äussere Erlebnisse, oder trotz ihnen, so ist es nur selten, dass der excedirende Stand der psychischen Irritabilität ganz von selbst allmählig und durch kaum merkliche Zwi- schenstufen den Grad auffallender psychischer Functionsstörung er- reicht; viel häufiger sind es mehre, mannigfaltige psychische Eindrücke und körperliche Störungen, unter deren successiver Einwirkung oder ungünstigem Zusammentreffen sich die Krankheit ausbildet, und sie ist dann nicht einem einzelnen dieser Momente, sondern nur ihrer Totalität zuzuschreiben. So sieht man in den concreten Fällen z. B. langwierige Trunksucht und einen sehr heftigen Affect, anderemale erbliche Disposition, häuslichen Unfrieden und eine Herzkrankheit, dann wieder Wochenbett und einen heftigen Aerger oder Schrecken, oder unglückliche Liebe und beginnende Tuberculose, kurz gewöhnlich mehre verschiedene üble Einwirkungen auf den Organismus oder schon begründete Krankheitszustände — oft noch weit vielfacher und compli- cirter als in diesen Beispielen — als Ursachen des Irreseins auftreten.
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Zusammengesetztheit der Ursachen.
Vorfällen zugeschrieben wird, das sich bei näherer Untersuchung als ein schon
viele Jahre bestandenes und ganz eingewurzeltes zeigt. Schon Pinel erzählt den
Fall einer Kranken, die angeblich 9 Monate an Irresein leiden sollte, in der That
aber schon 15 Jahre lang geisteskrank war.
Die deutsche Psychiatrie hat das Verdienst, immer die Aetiologie und Patho-
genie des Irreseins tiefer und richtiger aufgefasst und glücklicher bearbeitet zu
haben, als die französischen Schulen. Während diese noch bis in die neueste
Zeit (Moreau de Jonnès, Brierre, Parchappe) bei ihren ganz abstract gehaltenen
Tabellen psychischer und moralischer Ursachen stehen bleiben, in denen Trunk-
sucht, Epilepsie, Ehrgeiz, Prostitútion, Politik, Vermögensverlust und dergl. als
gleichwerthige Categorieen von Ursachen neben einander stehen, haben die deutschen
Irrenärzte (Heinroth und Ideler von psychischer Seite, Bergmann, Flemming,
Jakobi, Jessen, Nasse, Zeller und A. theils mit vorzüglicher Berücksichtigung
der somatischen Ursachen, theils allseitig) schon seit langer Zeit auf genaues
Individualisiren in Bezug auf die Ursachen des einzelnen Falls gedrungen, und
es hat sich bei uns immer mehr eine Betrachtungsweise festgestellt, welche die
sorgfältige Berücksichtigung aller Momente in ihrem Zusammenhange und Zu-
sammenwirken auf die Entwickelung des Krankheitszustandes fordert.
§. 64.
Ein näheres Eingehen in die Aetiologie des Irreseins zeigt näm-
lich alsbald, wie es in der ausserordentlichen Mehrzahl der Fälle
nicht eine einzige specifische Ursache, sondern ein Complex
mehrer, zum Theil sehr vieler und verwickelter schädlicher Momente
war, unter deren Einflusse die Krankheit endlich zu Stande kam.
Nicht selten wird der Keim des Erkrankens schon in jenen frühen
Lebensperioden gelegt, wo sich die Anfänge des Charakters bilden;
wächst er durch Erziehung und äussere Erlebnisse, oder trotz ihnen,
so ist es nur selten, dass der excedirende Stand der psychischen
Irritabilität ganz von selbst allmählig und durch kaum merkliche Zwi-
schenstufen den Grad auffallender psychischer Functionsstörung er-
reicht; viel häufiger sind es mehre, mannigfaltige psychische Eindrücke
und körperliche Störungen, unter deren successiver Einwirkung oder
ungünstigem Zusammentreffen sich die Krankheit ausbildet, und sie
ist dann nicht einem einzelnen dieser Momente, sondern nur ihrer
Totalität zuzuschreiben. So sieht man in den concreten Fällen z. B.
langwierige Trunksucht und einen sehr heftigen Affect, anderemale
erbliche Disposition, häuslichen Unfrieden und eine Herzkrankheit,
dann wieder Wochenbett und einen heftigen Aerger oder Schrecken,
oder unglückliche Liebe und beginnende Tuberculose, kurz gewöhnlich
mehre verschiedene üble Einwirkungen auf den Organismus oder schon
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cirter als in diesen Beispielen — als Ursachen des Irreseins auftreten.
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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/112>, abgerufen am 03.03.2025.
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