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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr.

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Dantes Dichtkunst und das zwanzigste Jahrhundert

Wir müßten die unbeschreiblichen Abwandlungen des Leids, Zorns, Mit¬
leids, Hohns, Grauens, Entsetzens, der Tragik, Tmgikomik. des Ekels miterleben,
welche den Abstieg in die immer tieferen Bezirke der Sünde malen, und müßten
dann durch die irdischen Jahres- und Tageszeiten des Gefühls im Purgatorio
mit dem Dichter reif werden, um auch noch in dem Glockenspiel und Funkentanz,
des Himmels die Manigfaltigkeit zu sehen:

Doch nicht über die Mannigfaltigkeit der Töne und Schattierungen wollte
ich mich verbreiten, wir kennen andere, hierin ebenso reiche Dichter; sondern uns
fesselt vor allem die strenge Zucht, mit der diese reichen Kunstmittel in den Dienst
eines entsagungsvollen Gedankens gestellt sind, ohne die edle Verschwendung, die
wir sonst bei allen gleich mächtigen Talenten finden.


III.

In der Hölle wird die Individualität geschildert, die das Gesetz des Geistes
an irgend einer Stelle mißachtete und hieran nun zugrunde geht. Bunte,,
satte Farben, charakteristische, individuelle Umrisse sind also hier am Platz. Im
Purgatorio aber entwickelt sich das Individuum vom Ich weg zum Aufgehen im
absoluten Geist. Im Paradiso ist das Individuum ausgelöscht im Dienst am
Geiste. Somit verblaßt mehr und mehr auch dichterisch das Individuelle, die
Farben und Umrisse verschwimmen, und der Gedanke beherrscht das Feld. Dante
selbst weiß, daß die meisten Leser in der Mitte des Gedichts am Wegrand bleiben,
nämlich alle die, welche nur die Dichtung, nicht den Gedanken, nicht die eigne
Läuterung und Erlösung suchen. Diese Leser ähneln eineni drolligen Faulpelz,
der im Purgatorio hinter einem schattigen Felsen liegen bleibt:

Diese Leser scheucht der Dichter selbst zurück, als er sich dem Paradiso
nähert, nicht die dem ästhetischen Genuß Zugekehrten, sondern einzig die nach der
Speise der Engel Verlangenden möchten ihm folgen:


Dantes Dichtkunst und das zwanzigste Jahrhundert

Wir müßten die unbeschreiblichen Abwandlungen des Leids, Zorns, Mit¬
leids, Hohns, Grauens, Entsetzens, der Tragik, Tmgikomik. des Ekels miterleben,
welche den Abstieg in die immer tieferen Bezirke der Sünde malen, und müßten
dann durch die irdischen Jahres- und Tageszeiten des Gefühls im Purgatorio
mit dem Dichter reif werden, um auch noch in dem Glockenspiel und Funkentanz,
des Himmels die Manigfaltigkeit zu sehen:

Doch nicht über die Mannigfaltigkeit der Töne und Schattierungen wollte
ich mich verbreiten, wir kennen andere, hierin ebenso reiche Dichter; sondern uns
fesselt vor allem die strenge Zucht, mit der diese reichen Kunstmittel in den Dienst
eines entsagungsvollen Gedankens gestellt sind, ohne die edle Verschwendung, die
wir sonst bei allen gleich mächtigen Talenten finden.


III.

In der Hölle wird die Individualität geschildert, die das Gesetz des Geistes
an irgend einer Stelle mißachtete und hieran nun zugrunde geht. Bunte,,
satte Farben, charakteristische, individuelle Umrisse sind also hier am Platz. Im
Purgatorio aber entwickelt sich das Individuum vom Ich weg zum Aufgehen im
absoluten Geist. Im Paradiso ist das Individuum ausgelöscht im Dienst am
Geiste. Somit verblaßt mehr und mehr auch dichterisch das Individuelle, die
Farben und Umrisse verschwimmen, und der Gedanke beherrscht das Feld. Dante
selbst weiß, daß die meisten Leser in der Mitte des Gedichts am Wegrand bleiben,
nämlich alle die, welche nur die Dichtung, nicht den Gedanken, nicht die eigne
Läuterung und Erlösung suchen. Diese Leser ähneln eineni drolligen Faulpelz,
der im Purgatorio hinter einem schattigen Felsen liegen bleibt:

Diese Leser scheucht der Dichter selbst zurück, als er sich dem Paradiso
nähert, nicht die dem ästhetischen Genuß Zugekehrten, sondern einzig die nach der
Speise der Engel Verlangenden möchten ihm folgen:


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[0283] Dantes Dichtkunst und das zwanzigste Jahrhundert Wir müßten die unbeschreiblichen Abwandlungen des Leids, Zorns, Mit¬ leids, Hohns, Grauens, Entsetzens, der Tragik, Tmgikomik. des Ekels miterleben, welche den Abstieg in die immer tieferen Bezirke der Sünde malen, und müßten dann durch die irdischen Jahres- und Tageszeiten des Gefühls im Purgatorio mit dem Dichter reif werden, um auch noch in dem Glockenspiel und Funkentanz, des Himmels die Manigfaltigkeit zu sehen: Doch nicht über die Mannigfaltigkeit der Töne und Schattierungen wollte ich mich verbreiten, wir kennen andere, hierin ebenso reiche Dichter; sondern uns fesselt vor allem die strenge Zucht, mit der diese reichen Kunstmittel in den Dienst eines entsagungsvollen Gedankens gestellt sind, ohne die edle Verschwendung, die wir sonst bei allen gleich mächtigen Talenten finden. III. In der Hölle wird die Individualität geschildert, die das Gesetz des Geistes an irgend einer Stelle mißachtete und hieran nun zugrunde geht. Bunte,, satte Farben, charakteristische, individuelle Umrisse sind also hier am Platz. Im Purgatorio aber entwickelt sich das Individuum vom Ich weg zum Aufgehen im absoluten Geist. Im Paradiso ist das Individuum ausgelöscht im Dienst am Geiste. Somit verblaßt mehr und mehr auch dichterisch das Individuelle, die Farben und Umrisse verschwimmen, und der Gedanke beherrscht das Feld. Dante selbst weiß, daß die meisten Leser in der Mitte des Gedichts am Wegrand bleiben, nämlich alle die, welche nur die Dichtung, nicht den Gedanken, nicht die eigne Läuterung und Erlösung suchen. Diese Leser ähneln eineni drolligen Faulpelz, der im Purgatorio hinter einem schattigen Felsen liegen bleibt: Diese Leser scheucht der Dichter selbst zurück, als er sich dem Paradiso nähert, nicht die dem ästhetischen Genuß Zugekehrten, sondern einzig die nach der Speise der Engel Verlangenden möchten ihm folgen:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339148/283>, abgerufen am 04.07.2024.